Teil III Leben in der Neuen Wirtschaft
Der Übergang in eine heilige Ökonomie ist Teil eines größeren Wandels in unserem Denken, unseren Beziehungen und unserem Sein. Wirtschaftliche Logik allein reicht nicht aus, um ihn zu vollziehen. Viele Wirtschaftsvisionäre haben sich mathematisch überzeugende, revolutionäre neue Formen von Geld und Eigentum ausgedacht, aber von der Handvoll, die je umgesetzt wurde, hat kein Modell die Zeit überdauert. Daher ist das letzte Drittel dieses Buches dem Wandel im Bewusstsein und Handeln gewidmet, der mit den neuen Geldsystemen einhergeht, die ich beschrieben habe. Wenn wir den Bruch zwischen Geist und Materie heilen, entdecken wir, dass Wirtschaft und Spiritualität untrennbar miteinander verbunden sind. Auf der persönlichen Ebene bedeutet Wirtschaft, wie wir unsere Gaben anderen schenken und unsere Bedürfnisse erfüllen. Es geht darum, wer wir im Verhältnis zur Welt sind. Indem wir unser alltägliches wirtschaftliches Denken und Handeln ändern, bereiten wir uns nicht nur auf den bevorstehenden großen Wandel vor, wir schaffen damit auch die Voraussetzungen, dass er tatsächlich stattfinden kann. Indem wir die heilige Ökonomie leben, erleichtern wir ihre Akzeptanz durch alle und heißen sie in dieser Welt willkommen.
Kapitel 18 Die Kultur des Schenkens wieder erlernen
Liebende dürfen nicht wie Wucherer für sich allein leben. Sie können einander nicht ewig anstarren, sondern müssen ihren Blick schließlich wieder der Gemeinschaft zuwenden.
(Wendell Berry)
In unserer Zeit unterscheiden wir zwischen geldvermitteltem Tausch und Geschenken. Rationales Eigeninteresse bestimmt den Tausch, während wir Geschenke zumindest teilweise dem Altruismus oder der Selbstlosigkeit zuschreiben. Diese Trennung der Wirtschaft in zwei separate Bereiche spiegelt andere Zweiteilungen in unserer Gesellschaft wider: Mensch und Natur, Geist und Materie, Gut und Böse, heilig und profan, Seele und Körper. Keine davon hält einer strengen Prüfung stand, sie alle brechen zusammen, wenn sich das Zeitalter der Getrenntheit seinem Ende nähert. So wie wir die Unterscheidung zwischen Geist und Materie aufheben und alle Materie wieder heilig sein lassen, und wie wir den Versuch aufgeben, die Natur zu überwinden und erkennen, dass wir ein Teil von ihr sind, so werden wir auch den Geist des Schenkens in alle Bereiche unserer Wirtschaft zurückkehren lassen, ob Geld beteiligt ist oder nicht.
Jeder Aspekt der in diesem Buch beschriebenen Evolution des Geldes verleiht dem Geld die Eigenschaften eines Geschenks:
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Über die Zeit müssen sich das Schenken und Beschenktwerden im Gleichgewicht halten. Die Internalisierung der ökologischen Kosten stellt sicher, dass wir nicht mehr von der Erde nehmen, als wir ihr zurückgeben können.
Die Quelle für ein Geschenk muss gewürdigt werden. Die Wiederaneignung der Commons führt dazu, dass jede Nutzung dessen, was allen gehört, durch eine Zahlung an alle gewürdigt wird.
Geschenke fließen eher, als dass sie sich anhäufen. Eine Schwundwährung sorgt dafür, dass Reichtum eine Folge des Fließens bleibt und nicht als Besitz ins Stocken gerät.
Geschenke fließen dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden. Eine soziale Dividende garantiert, dass die Grundbedürfnisse jedes Menschen erfüllt sind.
Also ist das Schenken das Fundament einer heiligen Ökonomie. Im Rest des Buches erforsche ich Möglichkeiten, die uns erlauben, dieses Bewusstsein in unserem eigenen Leben wiederherzustellen, damit wir für die kommende Welt gestärkt sind, und ihr den Weg bereiten können.
Ich empfehle hier nicht, dass Sie eine Heilige werden und den Egoismus fahren lassen sollen. So einfach ist die Kultur des Schenkens nicht. Wenn wir auf die Materie jene Qualitäten übertragen, die wir einst dem Geist zuschrieben, bringen wir gleichzeitig den Geist in Kontakt mit den „schmutzigen“ Eigenschaften der Materie. Dann ist unsere spirituelle Vorstellungswelt nicht länger ein Ort der perfekten Ordnung und Harmonie, des absolut Guten und Gerechten. Ähnlich müssen wir auch erkennen, dass, wenn wir dem Geld einige Eigenschaften der Schenkkultur verleihen, die Sphäre der Geschenke nie eine Sphäre der reinen, uneigennützigen Selbstlosigkeit war und wahrscheinlich auch nie sein wird.
Betrachten wir das Ideal des freien Geschenks, das Jaques Derrida folgendermaßen charakterisiert: “Damit es ein Geschenk ist, darf keine Gegenseitigkeit, keine Erwiderung, kein Austausch, kein Gegengeschenk und keine Schuld bestehen.” Das würde ausschließen, dass der Schenkende irgendeinen Nutzen daraus ziehen kann, sei es sozialer Status, Lob, Dankbarkeitsbezeugungen, und vielleicht nicht einmal das Gefühl, etwas Tugendhaftes gemacht zu haben. Im echten Leben kommt dem die anonyme Wohltätigkeit am nächsten, oder vielleicht die Almosen für die jainistischen Asketen, die darauf achten, weder Dank noch Lob für die ihnen gegebenen Speisen zu zeigen1 Die religiösen Glaubensvorstellungen der Jainas spielen eine wesentliche Rolle für diese gedankliche Verknüpfung des freien Geschenks mit Reinheit, Spiritualität und Weltabgewandtheit. Jainas versuchen durch Askese ihr Karma zu verbrennen und sich zu reinigen, ohne neue Bande mit der Welt zu knüpfen. Also legen sie Wert darauf, kein Haus zweimal zu besuchen, und nie einer Einladung zu folgen. Damit beabsichtigen sie, als unerwartete Gäste reine Wohltätigkeit zu empfangen, die durch keine weltliche Bindung befleckt ist.
Jainas sind ein extremer Fall, aber in den anderen Weltreligionen finden sich ähnliche Ideale. Die Christen sind zum Beispiel aufgerufen zu fasten, zu beten und im Geheimen wohltätig zu sein. Buddhisten, die dem Bodhisattva-Pfad folgen, müssen ihr Leben der Befreiung aller Wesen weihen, indem sie andere über sich selbst stellen. Im Judentum ist chesed shel emet das Prinzip der höchsten Form der Güte. Demnach schenkt man ohne die Hoffnung auf Abgeltung oder Dankbarkeit. Die höchste Ebene der Wohltätigkeit ist bei Juden erreicht, wenn weder der Schenkende noch der Beschenkte wissen, wer gegeben und wer bekommen hat. Anonyme Wohltätigkeit ist eine der fünf Säulen des Islam, und gewaltige islamische Wohlfahrtsorganisationen werden anonym finanziert. Ich glaube, ich muss nicht noch mehr Beispiele bringen, um die Leserin zu überzeugen, dass Altruismus und anonyme Wohltätigkeit mit Religion in Verbindung stehen.
Das religiöse Ideal des freien Geschenks, das keine Form von sozialen Bindungen schafft, ist ironischerweise den Geldtransaktionen sehr ähnlich! Auch sie erzeugen keine Verpflichtung, keine Bande: Ist einmal das Geld bezahlt und die Ware geliefert, schuldet keine der beiden Parteien der anderen etwas. Die oben beschriebenen idealisierten wahren Geschenke sind jedoch Ausnahmen. Normalerweise funktionieren Geschenke ganz anders. Wenn Sie mir etwas geben, bin ich dafür dankbar und möchte Ihnen – oder je nachdem, wie es der gesellschaftliche Brauch vorschreibt, jemand anderem – nun meinerseits etwas geben. Es ist somit eine Verbindlichkeit entstanden, eine Garantie dafür, dass der ökonomische Kreislauf innerhalb der Schenkgemeinschaft weitergeht. Anonyme Geschenke erzeugen keine solchen Bande und stärken daher auch nicht die Gemeinschaften. Der Empfänger mag dankbar sein, aber diese Dankbarkeit muss universell oder abstrakt bleiben und ist auf kein Objekt gerichtet.
Dankbarkeit entsteht nicht nur, wenn man selbst beschenkt wird, sondern auch, wenn man das Schenken und Beschenktwerden anderer miterlebt. Die Großzügigkeit der anderen rührt an unsere eigene Großzügigkeit. Wir möchten jene beschenken, die großzügig zu anderen sind. Uns bewegt ihre Offenheit, ihre Verletzlichkeit und ihr Vertrauen. Wir möchten dafür sorgen, dass es ihnen gut geht. Die anonyme Wohltätigkeit vielleicht ausgenommen, finden Geschenke nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Sie erweitern den Kreis des Selbst und verbinden unser Eigeninteresse mit dem jedes anderen, der uns geben wird, was wir brauchen, wenn er mehr hat, als er braucht. Das religiöse Ideal eines ungebundenen Geschenks, das die resultierende Dankbarkeit auf die universelle Ebene verlagert, hat insofern seine Berechtigung, als wir uns ja mit der Gemeinschaft aller Wesen identifizieren wollen. Aber ich glaube nicht, dass am Ende des Zeitalters der Getrenntheit ein Zustand des universellen Einsseins steht. Eher werden wir zu einem vieldimensionalen Selbstvertändnis übergehen, in dem wir uns schon mit allem Seienden identifizieren, ja, aber auch mit der Menschheit, mit der eigenen Kultur, mit unserer Bioregion, unserer Gemeinschaft, unserer Familie und unserem eigenen Ego. Also spielt das anonyme, unbelastete Geschenk zwar eine wichtige, aber begrenzte Rolle für die kommende Wirtschaft.
Das war sicher auch der Fall in primitiven Schenkkulturen. Während es ein Äquivalent zum universellen, nicht-reziproken Geschenk in Form von Opfern an die Götter gab, waren die meisten Geschenke doch sozialer Natur. In seiner berühmten Monografie Die Gabe aus dem Jahr 1924 lieferte Marcel Mauss überzeugende Argumente, die gegen die Existenz des freien Geschenks in primitiven Gesellschaften sprechen. Maus beschrieb, dass ziemlich genau geregelt war, welche Geschenke und Gegengeschenke angemessen sind, und dass diese über gesellschaftliche Anerkennung oder üble Nachrede, Status oder Ächtung und andere Formen des sozialen Drucks durchgesetzt wurden. Das ist ein durchaus wünschenswerter Umstand: Die Pflichten und Verbindlichkeiten, die durch Geschenke und die erwartete Abgeltung entstehen, sind wie ein Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält.
Heute fehlt uns dieser gesellschaftliche Klebstoff. In der ich-zentrierten Logik ist jede Verpflichtung, jede Abhängigkeit eine Bedrohung. Geschenke erzeugen von Natur aus Verpflichtungen, also bekamen die Menschen im Zeitalter der Getrenntheit Angst vor dem Schenken und noch mehr vor dem Beschenktwerden. Wir wollen keine Geschenke bekommen, weil wir niemandem gegenüber verpflichtet sein wollen. Wir wollen niemandem irgendetwas schulden. Wir wollen auch nicht von den Geschenken oder der Großzügigkeit anderer abhängig sein – “Ich kann selbst bezahlen, danke. Ich brauche dich nicht.” Dementsprechend überhöhen wir die anonyme Wohltätigkeit zu einen moralisch hochstehenden Ideal. Ohne weitere Bedingungen zu schenken und nichts dafür im Gegenzug zu erwarten, wird als große Tugend angesehen.
Wenn wir im Geist des Schenkens leben, gehört dazu auch, dass wir uns der Verpflichtung fügen, zu bekommen und zu geben. Mauss bringt das Beispiel der Daykas, die “sogar ein ganzes System aus Gesetzen und Moral rund um die Pflicht entwickelt haben, dass man nicht versäumen darf, an einem Mahl, das gerade stattfindet, oder dessen Zubereitung man gesehen hat, teilzunehmen.“2 Ich selbst erlebte das während meiner Jahre in Taiwan, wo sich in der älteren Generation immer noch Überreste der alten geschenkbasierten Kultur aus den agrarischen Zeiten gehalten hatten. Dort war es nicht nur ein schwerer Fauxpas, einem Besucher nichts zu essen anzubieten, es war genauso unhöflich, als Gast das angebotene Essen abzulehnen. Wenn das Abendessen zubereitet wurde, war es nicht gerade höflich, vor der Essenszeit einen schnellen Abgang zu versuchen (ohne eine wirklich überzeugende Entschuldigung). Ein Geschenk abzulehnen heißt, eine Beziehung zurückzuweisen. Wenn Geschenke Bande knüpfen und den Kreis des Selbst erweitern, dann bedeutet die Weigerung ein Geschenk anzunehmen oder zu geben: “Ich will nicht mit dir verbunden sein. Du bist ein Anderes in meiner Seinswelt.” Wie Mauss schreibt: “Das Geben zu verweigern, es zu verabsäumen, den anderen einzuladen, ist wie auch die Weigerung, etwas anzunehmen, gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung. Es bedeutet, das Band der Allianz und Gemeinsamkeit zu zurückzuweisen.“3
Dieses Band zu verschmähen ist eine ernste Sache. Der Autor Mark Dowie erzählt von einem Stamm in Alaska, bei dem er lebte. Es wurde ein Treffen der Ältesten einberufen, um die schwerwiegende Verletzung der Stammeskultur des Teilens durch ein bestimmtes Mitglied zu diskutieren. Der Mann hatte seine Jagdbeute für sich selbst gehortet, und missachtete damit die Stammessitte des Schenkens. Als wie schwerwiegend beurteilten die Ältesten sein Verhalten (das schon lange andauerte)? Sie kamen zusammen, um zu entscheiden, ob er getötet werden sollte oder nicht.4
In vielen Situationen findet eine unausgesprochene Verhandlung statt, in der die beiden Parteien Entschuldigungen und Entkräftungen der Entschuldigungen abtauschen, bis sie sich auf ein Geschenk einigen, das den Grad der Verbindung, die geschaffen wird, angemessen darstellt.5 “Oh, ich kann nicht, ich habe gerade gegessen,” (eine Lüge), “vielleicht nur eine Tasse Tee.” Der Tee kommt, nicht ohne einen Teller üppig beladen mit Mungbohnengebäck, getrockneten Pflaumen und Wassermelonenkernen. Ich knabbere bescheiden ein paar Kerne. Der Gastgeber gibt mir vom Gebäck etwas für Zuhause mit. Und so weiter. Dieser subtile Tanz aus Geben und Annehmen fehlt in einer Warenökonomie wie der unseren.
Aber selbst in Amerika, so fern uns auch die Kultur des Schenkens sein mag, kennen wir immer noch diese Logik. Vielleicht haben Sie schon einmal diese Erfahrung gemacht, was für ein Gefühl von Enttäuschung und Distanziertheit folgt, wenn Ihnen jemand einen Gefallen erwiesen hat, und Sie ihm dafür Geld anbieten. Wenn man für ein Geschenk bezahlt, kann es kein Geschenk mehr sein, und das Band, das gerade dabei war zu entstehen, zerreißt.
Die Abneigung gegen Verbindlichkeiten macht Geldtransaktionen attraktiv. Wie Richard Seaford sagt: “Was in einer kommerziellen Transaktion abgetreten wurde, ist damit vollständig und für immer von dem Menschen getrennt, der es preisgegeben hat.“6 Wenn wir für alles, was wir erhalten, bezahlen, bleiben wir unabhängig, ungebunden, frei von Verpflichtung, und frei von Bindungen. Keiner kann einen Gefallen geltend machen, keiner hat uns gegenüber ein Druckmittel in der Hand. In einer Schenkökonomie kann man nicht gut nein sagen, wenn jemand um Hilfe bittet. Dieser Mensch und die ganze Gesellschaft sagen mehr oder weniger explizit: “Hey, erinnerst du dich an all die Dinge, die wir für dich getan haben? Erinnerst du dich daran, dass wir auf deine Kinder aufgepasst haben? Dass wir deine Kuh gerettet haben? Dass wir damals nach dem Feuer deinen Heuschober wieder aufgebaut haben? Du schuldest uns etwas!” Heute möchten wir in der Lage sein zu sagen: “Ich habe euch für das Babysitten bezahlt. Ich habe für die Schneeräumung auf meinem Gehsteig bezahlt. Ich habe für alles bezahlt, was ihr für mich getan habt. Ich schulde euch gar nichts!”
Weil es Dankbarkeit oder eine Verpflichtung erzeugt, ist das bereitwillige Annehmen eines Geschenks an sich schon eine Form von Großzügigkeit. Man sagt damit: “Ich bin bereit, dir etwas zu schulden.” Oder in einer etwas fortgeschritteneren Kultur des Schenkens drückt man damit aus: “Ich bin bereit, mich damit gegenüber der Gemeinschaft zu verpflichten.” Dehnt man das Prinzip noch weiter aus, dann sagt man, wenn man ein Geschenk voll und ganz annimmt, das einem gewährt wurde: “Ich bin bereit, Gott und dem Universum gegenüber in einer Schuld zu stehen.” Gleichfalls entziehen wir uns, wenn wir Geschenke ablehnen, offenbar den Verpflichtungen, die natürlich zusammen mit der Dankbarkeit entstehen. Der Taxifahrer Steward Millard beobachtet:
„Die erste Schlussfolgerung, zu der ich gelangte, war, dass uns Geld unfähig zu wirklicher zwischenmenschlicher Beziehung macht. Wenn ich gerade einen neuen Satz Reifen von meinem Freund Greg bekommen habe (ich saß tatsächlich auf seinem Parkplatz und dachte darüber nach!), und dabei kein Geld ausgetauscht wurde, wie würde ich Greg das zurückzahlen? Und es stellte sich noch eine heiklere Frage: Was, wenn ich dieses Angebot (Geschenk) von Reifen von Greg nicht akzeptiere?“
Wenn ich die Reifen als Geschenk annehme und nicht mit Geld erwidere, dann stellt sich automatisch eine Reihe an Verhaltensweisen und Überlegungen ein. Was kann ich ihm im Gegenzug anbieten? Ich könnte darauf warten, dass er mich um etwas bittet, oder ich kann die schwierigere Aufgabe auf mich nehmen, Greg besser kennen zu lernen und dadurch eine eher organische Form des Austauschs ermöglichen. Geld heißt, ich kann bezahlen und muss dann keinen Gedanken mehr an meinen Mitmenschen auf der anderen Seite des Ladentisches verschwenden, kein gegenseitiges Kennenlernen, kein lebendiger Austausch, der zum natürlichen Ineinanderfließen von Bewegungen der Abhängigkeit und der Wertschätzung führt. Ein Grund, warum wir einander gegenüber so intolerant sind, ist einfach der, dass wir Geld haben. Wenn dieser Mensch unangenehm ist, dann lassen wir ihn stehen, drehen uns um und gehen mit unserem Geld einfach woanders hin.
Das Geschenk eines anderen voll und ganz anzunehmen, ist eines der wichtigsten Geschenke, die wir machen können. Heute haben wir viele Möglichkeiten, ein Geschenk ganz oder teilweise zurückzuweisen. Was immer wir tun, um die Verpflichtung abzuschwächen, die das Annehmen eines Geschenks mit sich bringt, ist eine Form der Zurückweisung: Wenn man zum Beispiel die Schenkende daran erinnert, was man ihr letztes Jahr geschenkt hat; oder wenn man suggeriert, dass man das Geschenk verdiente oder gar einen Anspruch darauf hätte; oder wenn man vorgibt, dass man das, was immer einem geschenkt wurde, ja gar nicht so sehr haben wollte; oder wenn man anbietet oder darauf besteht, dafür zu bezahlen. Wenn mir jemand ein Kompliment macht, weise ich es manchmal zurück, indem ich dessen Wahrheitsgehalt in Zweifel ziehe, falsche Bescheidenheit vortäusche, oder es entwerte, indem ich Dinge sage wie: “Oh, das macht doch jeder. Es ist nichts Besonderes.” Wenn jemand danke sagt, ertappe ich mich selbst manchmal dabei, den Dank zurückzuweisen: “Das war doch gar nichts, keine Ursache.” Jemand mag sagen: “Ihre Bücher haben mein Leben verändert”, und ich antworte vielleicht: “Die Veränderung war schon in Ihnen, und meine Bücher waren nur der Katalysator. Andere lesen dieselben Texte, und es passiert gar nichts.” Obgleich diese Antwort nicht ganz unberechtigt ist, habe ich sie trotzdem manchmal benutzt, um das Geschenk des Lobes oder Dankes abzulenken. Ich fürchtete mich, es voll an- und in mich aufzunehmen. Man kann das Geschenk eines Kompliments auch zurückweisen, indem man mit übertriebenem Eifer ein Gegenkompliment macht, und so vom ersten Kompliment ablenkt, bevor es die Chance hat zu wirken. Wenn wir aus Dankbarkeit ein Geschenk erwidern wollen, dürfen wir das nicht zu schnell tun, sonst wird es eine reine Transaktion, die sich nicht wesentlich von einem Kauf unterscheidet. Dann wird die Verpflichtung neutralisiert, die den Gebenden und den Beschenkten näher aneinander binden könnte.
Ein Geschenk voll anzunehmen heißt, bewusst eine Verpflichtung einzugehen, entweder gegenüber dem Schenkenden oder der Gesellschaft als Ganzes. Dankbarkeit und Verpflichtung gehen Hand in Hand, sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Wozu verpflichtet man sich? Man verpflichtet sich, ohne „Abgeltung“, ohne Ausgleich zu geben. Was ist Dankbarkeit? Sie ist der Wunsch, ebenfalls ohne Abgeltung zu geben, weil man genauso bedingungslos beschenkt wurde. Im Zeitalter des Selbst in Getrenntheit haben wir diese beiden voneinander abgespalten, aber ursprünglich sind sie eins: Verpflichtung ist ein Wunsch, der zuerst von innen kommt, und dem erst in zweiter Linie von außen Nachdruck verliehen wird.7 Dann ist es klar, dass der Widerwille vor dem Beschenktwerden eigentlich ein Widerwille zu schenken ist. Wir halten uns für großzügig, selbstaufopfernd oder selbstlos, wenn wir lieber geben als bekommen. Nichts davon sind wir. Ein großzügiger Mensch gibt und bekommt mit gleich offenen Händen. Haben Sie keine Angst davor, sich zu verpflichten, dankbar zu sein. Wir fürchten die Verpflichtung, weil wir uns zurecht dem “Müssen” gegenüber in Acht nehmen. Wir meiden den immensen Druck und den Zwang, der so vielen unserer gesellschaftlichen Institutionen zugrunde liegt. Aber wenn wir das “Müssen” in “Wollen” verwandeln, sind wir frei. Wenn wir erkennen, dass das Leben ein Geschenk ist, und dass wir hier sind, um selbst zu schenken, dann sind wir frei. Im Tod bleibt uns nichts von dem, was wir im Leben genommen haben, nur unsere Geschenke leben fort.
Sie sehen also wie weit in unserer Kultur das Zurückweisen von Geschenken verbreitet ist, und dass wir vieles wieder neu lernen müssen. Was als maßvoll oder bescheiden gilt, ist eigentlich oft die Ablehnung von Bindung, eine Distanzierung den anderen gegenüber, eine Weigerung, etwas zu bekommen. Wir fürchten uns genauso davor, etwas zu bekommen, wie etwas zu geben. Wir sind sogar unfähig, das eine ohne das andere zu tun. Wir mögen uns selbst für uneigennützig und tugendhaft halten, wenn wir lieber geben als bekommen, aber dieses Ungleichgewicht ist nicht weniger geizig als sein Gegenteil, weil die Quelle unserer eigenen Geschenke austrocknet, wenn wir nicht selbst auch bekommen. Das ist nicht nur geizig, sondern auch anmaßend: Was halten wir für die Quelle unserer Geschenke? Uns selbst? Nein. Das Leben an sich ist ein Geschenk, das Leben und alles, was es nährt, von Mutter und Vater bis zum ganzen Ökosystem. Nichts davon haben wir durch unsere eigene Leistung geschaffen. Dasselbe gilt auch für unsere körperlichen und geistigen kreativen Fähigkeiten. Manche, die diese Wahrheit intuitiv erfassen, nennen diese Geschenke gottgegeben.
Selbstverständlich ist es manchmal absolut angebracht, ein Geschenk abzulehnen, besonders, wenn man sich nicht auf die Bindung einlassen will, die das Geschenk mit sich brächte. An alle Geschenke sind Verpflichtungen geknüpft. Aber oft kommt unser Widerwille, etwas zu bekommen, nicht von einer Abneigung gegen eine bestimmte Bindung, sondern gegen Bindungen im Allgemeinen.
Bei der spirituell angehauchten New-Age Floskel “öffne dich der Fülle” wird mir übel, aber wie den meisten Klischees liegt auch diesem eine Wahrheit zugrunde. Die Angst davor, beschenkt zu werden, ist nämlich nicht nur eine Frage des geringen Selbstwertes oder ein Ausdruck des Gefühls, etwas nicht zu verdienen, wie uns manche selbsternannten Gurus glauben machen: es ist letztendlich auch eine Angst davor, zu geben. Beides geht Hand in Hand – immer! Zusammen ist das Ausdruck einer Angst vor dem Leben, vor der Verbundenheit, eine Form von Verschlossenheit. Zu geben und zu bekommen, Schuldner und Gläubiger zu sein, von anderen abhängig zu sein und zu wissen, dass Leuten von einem selbst abhängig sind, das heißt, voll am Leben zu sein. Weder zu geben noch zu bekommen, sondern für alles zu bezahlen, nie von jemandem abhängig, sondern finanziell unabhängig zu sein, an keine Gemeinschaft, keinen Ort gebunden, sondern mobil zu sein… so sieht das Paradies des getrennten und eigenständigen Selbst aus. Der spirituelle Dünkel des Nicht-Anhaftens, der religiöse Wahn der Weltabgewandtheit, und die wissenschaftliche Ambition, die Natur zu beherrschen und zu transzendieren, beweisen, dass es weniger das Paradies als eine Hölle ist.
Wenn wir jetzt aus unserer Illusion des Nicht-Anhaftens, der Unabhängigkeit und Transzendenz aufwachen, suchen wir wieder die Verbindung mit unserem wahren, umfassenden Selbst. Wir verzehren uns nach Gemeinschaft. Unabhängigkeit und das Nicht-Anhaften waren sowieso nie etwas anderes als Illusionen. Die Wahrheit ist, war immer, und wird immer sein, dass wir gänzlich und hoffnungslos voneinander und von der Natur abhängig sind. Und es wird sich auch nie ändern, dass die einzige Alternative zum abhängigen, bekommenden, liebenden und verlierenden Sein das nicht-am-Leben-Sein ist.
Zweifellos liegt auch im Nicht-Anhaften eine Wahrheit; eine Wahrheit, die die Kultur des Schenkens widerspiegelt, weil wir uns dann weniger fest an unsere Dinge klammern. Dieses Nicht-Anhaften entsteht aber nicht aus völliger Unabhängigkeit oder Abgrenzung heraus, sondern es findet in einem Umfeld von Verhaftet-Sein und Verbundenheit statt. Geschenke helfen sogar dabei, das anhaftende Ego zu befreien, weil sie das Selbst über das Ego hinaus erweitern und das Eigeninteresse mit dem Wohl eines größeren, mit allem verbundenen Seins in Einklang zu bringen. Geschenke entstehen aus, und sie dienen der Erweiterung des Selbst über das Ego hinaus. Sie sind zugleich Ursache und Folge. Fühlen wir uns mit jemand anderem verbunden, dann haben wir das Bedürfnis, ihn zu beschenken. Je mehr wir geben, desto mehr spüren wir unsere Verbundenheit. Das Geschenk ist die gesellschaftliche und stoffliche Manifestation einer zugrundeliegenden Einheit aller Wesen.
Von der Welt abgehoben kann man wenig Gutes tun und wenig Schaden anrichten. Tauchen wir aber ein in die Welt, dann sind wir gefordert, unseren Reichtum weise zu gebrauchen.8 Es ist ein Zeichen von Großzügigkeit, sich voll auf die gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen einzulassen. Indem man von seine Gaben und Fähigkeiten öffentlich sichtbar verschenkt – und zwar im Gegensatz zu den religiösen Idealen so, dass man auch eine Erwiderung ermöglicht -, vergrößert man den Strom von Geschenken, der durch das eigene Leben fließt. Dadurch wachsen die eigene Fähigkeit und das eigene Bedürfnis, zu geben. Die Idee ist nicht, eine Erwiderung des Geschenks zu erzwingen, oder darauf abzuzielen – dann ist es kein Geschenk mehr – sondern ein Bedürfnis zu erfüllen und eine Bindung zu knüpfen.
Geschenke und Geschichten sind zusammen der Stoff, aus dem Beziehung und Gemeinschaft gemacht sind. Die beiden hängen eng zusammen. Geschichten können Geschenke sein, und Geschichten begleiten Geschenke, streichen ihren einzigartigen, persönlichen Charakter heraus. Der Drang, die Geschichte zu einem Geschenk zu erzählen, ist fast unwiderstehlich. Ich erinnere mich an meine Großmutter: “Zuerst suchte ich bei Macy´s, aber dort haben sie es nicht, dann ging ich zu J.C. Penney´s…” Auf jeden Fall sind die Geschichten darüber, wer wem was geschenkt hat, ein Teil der gesellschaftlichen Bezeugung, welche wiederum die Großzügigkeit und das Gemeinschaftsgefühl nährt.
Die Haltung eines Schenkenden – “Ich gebe dir freimütig und vertraue darauf, dass ich bekommen werde, was angemessen ist, sei es nun von dir oder von jemand anderem in unserem Geschenkkreis” – bringt eine Saite zum klingen. Da ist etwas Ewiges und Wahres in diesem Geist der Dankbarkeit und Großzügigkeit, der keine Belohnung erwartet und auf keine Verpflichtung abzielt.9 Hier stehen wir vor einem Paradox: Auf der einen Seite bewirkt die Verpflichtungen erzeugende Funktion von Geschenken gesellschaftliche Solidarität und Gemeinschaft. Auf der anderen Seite sprechen gerade solche Geschenke unsere Herzen an, die keine Verpflichtung erzeugen wollen, keine Erwiderung verlangen, und es rührt uns die Großzügigkeit derer, die schenken, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Gibt es eine Möglichkeit, dieses Paradox aufzulösen? Ja, denn um das Eigeninteresse des getrennten und eigenständigen Selbst auszuhebeln, muss die Verpflichtung nicht unbedingt durch sozialen Druck vermittelt werden. Sie kann sich auch natürlich und ungezwungen als Folge von Dankbarkeit ergeben. Diese Verpflichtung ist ein angeborenes Verlangen, eine natürliche Folge des Gefühls von Verbundenheit, das sich spontan einstellt, wenn man ein Geschenk bekommt oder eine großzügige Geste miterlebt.
Gemäß der Logik des getrennten und eigenständigen Selbst sind Menschen grundsätzlich selbstsüchtig. Es gilt für das egoistische Gen genauso wie für den homo oeconomicus von Adam Smith: mehr für dich ist weniger für mich. Dementsprechend muss die Gesellschaft verschiedene Drohungen und Anreize setzen, um das egoistische Verhalten des Individuums mit den Interessen der Gesellschaft in Einklang zu bringen. Heute ersetzen neue Paradigmen in der Biologie die orthodoxe neodarwinistische Lehrmeinung, während spirituelle, wirtschaftliche und psychologische Bewegungen die atomistische kartesianische Vorstellung vom Selbst in Frage stellen. Das neue Selbst ist interdependent, mehr noch, es hat rein aufgrund seiner Existenz Teil an der Existenz aller anderen Wesen, mit denen es verbunden ist. Das ist das Selbst in Verbundenheit, jenes größere Selbst, das sich ausdehnt, um allmählich jeden und alles in seinen Schenkkreis miteinzubeziehen. Innerhalb dieses Kreises gilt nicht mehr, dass mehr für dich weniger für mich ist. Geschenke kreisen, also ist das Glück eines anderen auch mein eigenes Glück. Von diesem weiten Selbstgefühl umhüllt braucht es keine Druckmittel mehr, um das Schenken zu erzwingen. Die sozialen Strukturen des Geschenks dienen immer noch einem Zweck: die Mitglieder an ihre Verbundenheit zu erinnern, den zu bremsen, der das vielleicht vergessen hat, und Schenkstrukturen zur Verfügung zu stellen, die funktionieren, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Wer schenkt wem was? Die richtige Antwort ist für jede Kultur eine andere und ist abhängig von der Umgebung, dem Verwandtschaftssystem, den religiösen Vorstellungen und vielem anderen. Eine Schenkstruktur entwickelt sich mit der Zeit und lenkt eine kulturell angemessene Verteilung der Ressourcen.
Das ist es im Grunde auch, was wir von der Geldökonomie wollen: Sie soll zwischen menschlichen (und nicht-menschlichen) Bedürfnissen und den Gaben der Männer, der Frauen, und der Natur vermitteln, die diese erfüllen können. Jeder der auf Wirtschaft und Geld bezogenen Vorschläge in diesem Buch ist auf die eine oder andere Art eine Annäherung an dieses Ziel. Das alte Wirtschaftsregime führt in eine andere Richtung mit seiner Tendenz zur Vermögenskonzentration, seinem Prinzip, dass vom Kreislauf der Geschenke ausgeschlossen wird, wer nicht zahlen kann (also die armen Menschen, andere Spezies und die Erde), mit seiner Anonymität und Unpersönlichkeit, seiner Zersplitterung von Gemeinschaft und Auflösung von Verbundenheit, seiner Verleugnung der Kreisläufe und des Gesetzes der Wiederkehr, und seiner Ausrichtung auf das Anhäufen von Geld und Besitz. Die heilige Ökonomie ist das Gegenteil all dessen: sie ist egalitär, einschließlich, persönlich, knüpft Bande, ist nachhaltig und fördert das Fließen, nicht das Anhäufen. Eine solche Wirtschaft ist im Kommen! Die alte kann nicht fortdauern. Es ist Zeit, dass wir uns darauf vorbereiten, indem wir beginnen, schon heute nach ihren Prinzipien zu leben.
1 James Laidlaw: “A Free Gift Makes No Friends.” In The Question of the Gift: Essays across Disciplines, Herausgeber: Mark Olstein. New York: Routledge, 2002, Seiten 46-47.
2 Marcel Mauss: The Gift: The Form and Reason for Exchange in Archaic Societies. Trans. W.D. Halls. W. W. Norton and Co., 2000, Seite 13.
4 Interview “A Conversation with Charles Eisenstein and Mark Dowie,” gesendet am 4. April 2009 vom Radiosender KWMR.
5 In Taiwan erfasste ich intuitiv die dortigen Anstandsregeln und geriet dadurch manchmal in unangenehme Situationen. Einmal besuchte ich einen älteren Mann, um mein Taiwanesisch zu verbessern; die Stunde an diesem Morgen war begleitet von einer Platte mit aufgeschnittenem Rindfleisch und einer frisch geöffneten Flasche Whiskey. Dieses Angebot durfte nicht ausgeschlagen werden.
6 Richard Seaford: Money and the Early Greek Mind, Cambridge: Cambridge University Press, 2004, Seite 203.
7 In Schenkgesellschaften sind Verpflichtung und Dankbarkeit untrennbar miteinander verbunden. Beim Potlach in Polynesien und im Nordwestpazifik konnte das Schenken ein Akt von sozialer Dominanz, beinahe von Aggression sein. Aber selbst jenseits dieses Extremfalls stimmt im Allgemeinen, was die Anthropologin Mary Douglas sagt: “Rund um den Globus und so weit wir in der Geschichte der menschlichen Zivilisation zurückgehen können, hat der Großteil des Gütertransfers in Form von Kreisläufen mit der verpflichtenden Erwiderung von Geschenken stattgefunden.”
Wenn wir also darüber urteilen, was ein wahres Geschenk ausmacht und was nicht, vergessen wir nicht die Rolle, die Geschenke psychologisch und gesellschaftlich in zahllosen Schenkkulturen bis zum heutigen Tag gespielt haben. Wer sind wir, die wir fast vollständig in einer Warenkultur leben, dass wir uns anmaßen zu wissen, was ein Geschenk ist?
8 Entsprechend dieser Idee ist der Weg der Asketen nur dann richtig, wenn er aus der ehrlichen Erkenntnis erwächst: “Ich bin nicht bereit, Reichtum (in all seinen Formen) gut zu nutzen, also werde ich mich so lange enthalten, bis ich damit umgehen kann.” Ich habe tatsächlich nur sehr wenige Menschen getroffen, die Reichtum gut nutzen. Das ist nicht sehr überraschend, da ja Reichtum, so wie unsere Talente, Energie und Zeit, ein Geschenk ist. Und um das gut zu nutzen, müssen wir die gebende Geisteshaltung einnehmen können.
9 Daher scheint mir, dass Mauss die Dynamik von Schenkgesellschaften durch eine polarisierende Linse sieht und etwas Wichtiges vergisst. Obgleich Mauss auf der philosophischen Ebene der utilitaristischen Herabminderung von Menschen als soziale Wesen und der Betonung von Individualismus entgegentritt, folgt er immer noch manchen Grundannahmen dieser Doktrin, besonders jener, dass menschliche Motivation hauptsächlich vom Eigeninteresse gespeist wird. Er fragt am Beginn von The Gift: “Welche gesetzliche und auf Eigeninteresse basierende Regel zwingt in rückständigen oder archaischen Gesellschaften, dass das Geschenk, das empfangen wurde, verpflichtend zu erwidern sei?” (3). Diese Frage schließt schon von vornherein Mechanismen jenseits von Eigeninteresse oder Verpflichtung aus, die den zweiten Teil seiner Fragestellung erklären könnten: “Welche Macht wohnt dem geschenkten Objekt inne, die seinen Empfänger veranlasst, es zurückzuzahlen?”
Wenn seine Darstellung der Dynamiken des Schenkens vollständig sind, dann könnten wir berechtigt die Frage stellen, inwiefern sich das gegenwärtige, geldvermittelte System davon überhaupt unterscheidet. Durch das Medium Geld üben auch wir sozialen Druck aus, der unserem Eigeninteresse Nachdruck verleiht, damit wir sicher sein können, dass die Geschenke erwidert werden. Geldschuld entspricht direkt den Verpflichtungen, die durch Geschenke in den archaischen von Mauss beschriebenen Gesellschaften entstehen. Darüber hinaus hat in diesen Gesellschaften auch der Wucher sein Gegenstück, weil aus Prestigegründen das erwiderte Geschenk größer als das ursprüngliche sein muss. Ein Schluss, den wir aus diesen Parallelen ziehen könnten, wäre, dass sich nichts geändert hat: Die heutige Geldökonomie ist nur eine Weiterführung der archaischen Schenkökonomien im Zeitalter der Maschinen. Aber man könnte auch daraus schließen, dass Mauss die heutige Denkart und heutige Motivationen auf die Menschen der Vergangenheit projiziert hat. Das lässt sich mit einigen Beweisen untermauern: zum Beispiel mit den zahlreichen Erzählungen von Reisenden über die offene, kindliche Großzügigkeit der Eingeborenen, denen sie begegneten. Sogar Christoph Kolumbus war bewegt (aber nicht bewegt genug, um sich davon abhalten zu lassen, sie zu ermorden und zu versklaven): “[Die Arawak] sind so naiv und großzügig mit ihrem Eigentum, dass niemand, der es nicht gesehen hat, es glauben würde. Wenn man um etwas bittet, das sie besitzen, sagen sie nie nein. Im Gegenteil, sie bieten jedem an zu teilen und zeigen so viel Liebe, als hätten sie ihre Herzen mitgeschenkt.” Seine Beschreibung weist auf etwas Wesentliches hin: Ihre Naivität deutet auf etwas Kindliches und Ursprüngliches in ihrer Großzügigkeit. Ihre liebevolle Art legt eine ganz andere Motivation nahe, als das von Mauss beschriebene sozial verstärkte Eigeninteresse.