Kapitel 12 Eine Negativzinswirtschaft

Schuld kann ewig währen, Reichtum nicht, denn seine stoffliche Komponente ist der destruktiven Kraft der Entropie unterworfen.

(Frederick Soddy)

Nehmen wir an, ich hätte zwölf Brotlaibe und Sie wären hungrig. So viel Brot kann ich nicht essen bevor es hart wird, also gebe ich Ihnen gern etwas davon ab. “Hier, nehmen Sie diese sechs Wecken,” sage ich, “und wenn Sie später einmal selbst Brot haben, können Sie mir wieder sechs Stück zurück geben.” Ich gebe Ihnen jetzt sechs frische Brote, und Sie geben mir irgendwann später sechs frische Brote.

In einer Welt, in der das, was wir brauchen, schlecht wird, ist das Teilen ganz natürlich. Der Hortende sitzt am Schluss auf einem Haufen alter Brote, rostiger Werkzeuge und verdorbener Früchte, und keiner will ihm helfen, weil er niemandem geholfen hat. Geld heute ist jedoch nicht wie Brot, Früchte oder andere natürlichen Dinge. Es ist die einzige Ausnahme vom Naturgesetz der Wiederkehr, dem Gesetz von Leben, Tod und Wiedergeburt, nach dem am Ende alles wieder zu seinem Ursprung zurückkehrt. Geld verfällt nicht mit der Zeit, sondern es bleibt in seiner Abstraktheit unverändert oder wächst – sogar exponentiell – aufgrund der Macht der Zinsen.

Wir verbinden Geld sehr eng mit dem Selbst. Wie das Wort “mein” impliziert, betrachten wir unser Geld fast wie einen erweiterten Teil von uns. Deshalb fühlen wir uns “übers Ohr gehauen”, wenn es uns genommen wird. Geld verletzt nicht nur das natürliche Gesetz der Wiederkehr, sondern auch das spirituelle Gesetz der Vergänglichkeit. Wir geben uns einer Illusion hin, wenn wir etwas Beständiges, das über die Zeit noch zunimmt, mit einem Selbst verbinden, das altert, stirbt und wieder zu Erde wird. Auch wenn wir es alle besser wissen, haben wir die Phantasie, dass wir, wenn wir Reichtum anhäufen, irgendwie selbst größer werden und die Unvergänglichkeit des Geldes auf uns übertragen. Wir sparen für das Alter, als könnten wir dadurch unsere eigene Hinfälligkeit hinauszögern. Was für eine Wirkung hätte ein Geld, das wie alle anderen Dinge verfällt und wieder zu seinem Ursprung zurückkehrt?

Wir haben ein exponentiell wachsendes Geld an ein Selbst und eine Welt gebunden, die sich nicht exponentiell und auch nicht linear verhalten, sondern zyklisch. Daraus entstehen, wie ich beschrieben habe, Konkurrenz, Knappheit und Vermögenskonzentration. Was ist falsch gelaufen mit dieser schönen Idee namens Geld, das unsere Geschenke und unsere Bedürfnisse miteinander in Bezug setzen kann? Die Antwort auf meine Frage hat viel mit Zinsen und Wucher zu tun. Aber Wucher ist kein alleinstehendes Phänomen, zu dem es nicht gekommen wäre, hätten wir nur früher klügere Entscheidungen getroffen. Er steht unzweifelhaft in Zusammenhang mit unserem Selbstbild, dem Selbst in Getrenntheit inmitten eines objektiven Universums, dessen Entwicklungslinie jener des Geldes entspricht. Es ist kein Zufall, dass die erste weitgehend monetarisierte Gesellschaft im antiken Griechenland auch der Geburtsort der modernen Vorstellung vom Individuum war.

Diese starke Verbindung zwischen Geld und Sein ist eine gute Nachricht, denn unsere Identität durchläuft zur Zeit eine umfassende Metamorphose. Welche Art von Geld wird dem neuen Selbstbild, dem Selbst in Verbundenheit, und dem neuen Weltbild, der Erkenntnis, dass alles miteinander verbunden ist, entsprechen, wonach mehr für Sie auch mehr für mich ist? Angesichts der entscheidenden Rolle von Zinsen kommt am ehesten ein alternatives Währungssystem in Frage, das Zinsen strukturell eliminiert, oder dem sogar das Gegenteil von Zinsen zu eigen ist. Außerdem, wenn Zinsen Konkurrenz, Knappheit und Polarisierungen verursachen, könnte dann nicht das Gegenteil von Zinsen zu Kooperation, Fülle und Gemeinschaftlichkeit führen? Und wenn Zinseinkünfte aus der seit uralten Zeiten bis heute andauernden Plünderung der Gemeingüter stammen, könnte das Gegenteil von Zinsen nicht wieder zum Aufbau der Commons beitragen?

Wie sähe dieses Gegenteil nun aus? Es wäre Geld, welches wie Brot mit der Zeit an Wert verliert, Geld, das verfällt. Auf dieses Geld würden Negativzinsen entfallen, die man auch Demurrage nennt.1 Eine Verfalls- oder Schwundwährung ist eine der zentralen Ideen dieses Buches, aber bevor ich über ihre Geschichte, Anwendung und die zugrundeliegende ökonomische Theorie und deren Konsequenzen schreiben werde, möchte ich noch kurz über den Begriff “verfallen” sprechen. Man hat mir geraten, diesen Begriff zu vermeiden, weil er so negative Assoziationen hervorruft.

Warum scheint uns “Verfall” schlecht und “Bewahrung” gut? Diese Einstellung kommt wieder aus der Geschichte vom Aufstieg, in der es die Bestimmung der Menschheit ist, die Natur zu überwinden, über Entropie, Chaos und Verfall zu triumphieren, und wissenschaftlich, rational, sauber und kontrolliert Ordnung zu schaffen. Sie wird ergänzt durch die Geisteshaltung der Getrenntheit, nach der eine immaterielle, ewige, unsterbliche göttliche Seele einen vergänglichen, sterblichen, profanen Körper bewohnt. Also wollen wir den Körper unterwerfen, die Welt unterwerfen, und den Verfall aufhalten. Unglücklicherweise sperren wir uns dadurch auch gegen den größeren Prozess, dessen Teil der Verfall ist: Erneuerung, Wiedergeburt, Rückgewinnung und die spiralförmige Entwicklung hin zu einer noch höheren Komplexität. Glücklicherweise nähern sich die Geschichten von Getrenntheit und Aufstieg ihrem Ende. Es ist an der Zeit, die Schönheit und Notwendigkeit des Verfalls wieder zu erkennen, sowohl in unserem Denken als auch in unserer Wirtschaftstheorie.

12.1 Geschichte und Hintergrund

Frühe Formen von Warengeld wie Getreide, Vieh und Ähnliches waren naturgemäß dem Verfall ausgesetzt: Getreide verdirbt, Tiere altern und sterben, und sogar Ackerland verwildert, wenn es nicht bearbeitet wird. Es gab auch Metallgeld, mit dem der Verfallsprozess imitiert wurde, indem es so etwas wie integrierte Negativzinsen hatte. Ein grobes Beispiel für ein solches System waren die im Mittelalter weit verbreiteten Brakteaten: Diese Münzen wurden in regelmäßigen Abständen verrufen, und man konnte mit einem Abschlag die alten gegen die neuen Münzen tauschen.2 In England ließen die sächsischen Könige die Silbermünzen alle sechs Jahre neu prägen und gaben drei neue für vier alte aus. Das entsprach einem Währungsverfall von 4% pro Jahr.3 Damit wurde quasi das Horten von Geld bestraft, seine Zirkulation und Investitionen in produktives Kapital hingegen angeregt. Hatte man mehr Geld, als man verwenden konnte, war man froh darüber, es auch ohne Zinsen verleihen zu können, weil die Münzen ihren Wert sowieso verloren, wenn man sie zu lange behielt. Die Geldmenge nahm in diesem System nicht notwendigerweise ab, weil der Münzrechtsinhaber die Differenz wieder zurück in die Wirtschaft einspeiste, indem er damit seine eigenen Ausgaben deckte. Dieser Negativzinssatz auf Geld war daher eine Art Steuer.

Der Pionier unter den Theoretikern des Negativzinsgeldes war der deutsch-argentinische Kaufmann Silvio Gesell. Er prägte den Begriff “Freigeld”, den ich zu seinen Ehren übernehmen werde. 1906 schlug er in seinem Hauptwerk Die natürliche Ordnung der Dinge ein System vor, in dem auf Papiergeld regelmäßig Marken angebracht werden mussten, die jeweils einen Bruchteil des Werts der Geldnote kosteten. Damit musste man für seinen Geldreichtum eine Aufrechterhaltungsgebühr entrichten. Wie jede physische Ware wird auch ein solches Geld “schlecht” (wobei die Verfallsrate vom Wert der Marken abhängt, mit denen man die Währung gültig hält). Würde beispielsweise eine Dollar-Note jeden Monat eine ein-Cent Marke benötigen, um gültig zu bleiben, dann verlöre die Währung um 12 Prozent pro Jahr an Wert.4

Zur Idee einer Schwundwährung kam Gesell über einen anderen Weg als ich. Er schrieb zu einer Zeit, als praktisch niemand in Zweifel zog, dass ein Wirtschaftswachstum wünschenswert sei. Obwohl Gesell ein Visionär war, zweifelte er (so weit ich weiß) niemals daran, dass die Erde das Wirtschaftswachstum verkraften, oder die Technologie es immer weiter aufrechterhalten könnte.5 Seine größte Sorge war die ungerechte Verteilung des Reichtums in der damaligen Zeit – die beispiellose Armut inmitten eines nie gekannten Überflusses. Das führte er auf den enormen und ungerechten Vorteil der Geldbesitzenden zurück: sie verfügen über “ein Handelsgut, welches gehortet werden kann und zur selben Zeit das Geldmedium ist.” Andere Güter (außer vielleicht Land) können nicht in derselben Weise gehortet werden wie Gold oder eine andere Währung: Sie verrotten, rosten, verfallen, können gestohlen werden, veralten, bringen Lagerungs- und Transportkosten mit sich, und so weiter. Er schrieb:

Das Gold paßt nicht zur Eigenart unserer Waren. Gold und Stroh, Gold und Petroleum, Gold und Guano, Gold und Ziegelsteine, Gold und Eisen, Gold und Häute!! Nur eine Einbildung, ein ungeheurer Wahngedanke, nur der Gegenstand der Wertlehre kann diesen Widerspruch überbrücken. Die Waren im allgemeinen, Stroh, Petroleum, Guano können nur dann sicher gegenseitig ausgetauscht werden, wenn es allen Leuten völlig gleichgültig ist, ob sie Geld oder Ware besitzen, und das kann nur dann der Fall sein, wenn das Geld mit all den üblen Eigenschaften belastet wird, die unseren Erzeugnissen ”eigen” sind. Es ist das ganz klar. Unsere Waren faulen, vergehen, brechen, rosten, und nur wenn das Geld körperliche Eigenschaften besitzt, die jene unangenehmen, verlustbringenden Eigenschaften der Waren aufwiegen, kann es den Austausch schnell, sicher und billig vermitteln, weil dann solches Geld von niemand, in keiner Lage und zu keiner Zeit vorgezogen wird.

Geld, das wie eine Zeitung veraltet, wie Kartoffeln fault, wie Eisen rostet, wie Äther sich verflüchtigt, kann allein sich als Tauschmittel von Kartoffeln, Zeitungen, Eisen und Äther bewähren. Denn solches Geld wird weder vom Käufer noch vom Verkäufer den Waren vorgezogen. Man gibt dann nur noch die eigene Ware gegen Geld her, weil man das Geld als Tauschmittel braucht, nicht, weil man vom Besitz des Geldes einen Vorteil erwartet.6

Aber wie zu Gesells Zeit wird auch heute das Geld gegenüber den Waren bevorzugt. Die Möglichkeit, das Tauschmittel zurückzuhalten, erlaubt den Geldbesitzern Zinsen zu verlangen. Sie haben eine privilegierte Haltung gegenüber den Besitzern von Realkapital (und einen noch größeren gegenüber jenen, die ihre Zeit verkaufen, von der jeden Tag 100% verschwinden, wenn sie nicht verkauft wird). Das Resultat ist eine zunehmende Polarisierung von Reichtum, weil grundsätzlich jeder seinen Tribut an die Besitzer des Geldes zahlt.

Es ist einfach unfair, dass wir schon für das Mittel bezahlen müssen, das uns den Austausch ermöglicht. Gesell glaubte, dass allein der Wunsch zu tauschen genügen sollte. Ich kann etwas anbieten, das Sie brauchen, warum also sollten wir für das Tauschmittel bezahlen müssen? Warum sollten Sie für das Privileg, ein Geschenk zu bekommen, bezahlen müssen? Das ist einer der Gründe, warum auf Gesells Geld die Bezeichnung “Frei-“geld zutrifft. Wie wir sehen werden, lässt ein auf Schwundgeld basierendes Kreditsystem zinslose Darlehen zu. Wir müssen zwar die Darlehen zurückzahlen, aber wir müssen nicht für sie bezahlen. In diesem Sinn ist das Geld dann frei, gratis.

Gesell wollte eine Schwundwährung, um die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes von seiner Funktion als Tauschmittel zu entkoppeln. Geld sollte nicht mehr begehrter sein als materielles Kapital. Das Ergebnis, erwartete er, wäre das Ende der künstlichen Knappheit und der Wirtschaftskrise, zu der es kommt, wenn es viele Güter gibt aber kein Geld um sie zu tauschen. Sein Modell sollte die Zirkulation des Geldes erzwingen. Die Besitzer von Geld hätten keinen Anreiz mehr, der Wirtschaft so lange Geld vorzuenthalten und auf eine Knappheit zu warten, bis Erträge auf Realkapital die Zinssätze übersteigen. Das ist der zweite Grund für die Bezeichnung “Frei-“Geld: von der Kontrolle der Reichen befreit, würde das Geld frei zirkulieren statt in riesigen stagnierenden Tümpeln zu versumpfen, wie es das heute tut.

Gesell betrachtete die zinstragende Eigenschaft von Geld als Wohlstandsbremse. Sobald es so viele Güter gibt, dass die Erträge auf Investitionskapital niedriger sind als der Mindestzinssatz, investieren die Geldbesitzer nicht. Das Geld für Transaktionen verschwindet aus dem Kreislauf, und die bekannte Überkapazitätskrise mit ihrer paradoxen Begleiterscheinung zeichnet sich ab: Für den Großteil der Menschen werden Güter knapp.

1906 unterschied sich das Geldsystem recht stark von unserem heutigen. Die meisten Währungen waren immer noch, zumindest theoretisch, durch Edelmetalle gedeckt, und es gab keine Kreditblase wie bei uns heute. Gesell betrachtete Kredite sogar als Geld-Ersatz, als eine Möglichkeit für die Wirtschaft, Transaktionen selbst dann zu tätigen, wenn kein Geld vorhanden ist. Aber heute sind Kredit und Geld fast identisch. Die heutige Wirtschaftstheorie beurteilt das als eine positive Entwicklung, unter anderem, weil es eine sich organisch ausweitende und kontrahierende Geldmenge entsprechend der Nachfrage für das Tauschmittel erlaubt. Aber wie wir gesehen haben, reagiert verzinster Kredit nicht nur auf das Wachstum der Geldwirtschaft, sondern er erzwingt es auch. Außerdem ist Geld in der heutigen Form nicht weniger knapp als zu Gesells Zeiten.

Obwohl sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch in Vergessenheit gerieten, erfreuten sich die Ideen Gesells großer Beliebtheit in den 1920er und 1930er Jahren. Sie beeinflussten berühmte Ökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes. Fischer warb in den Vereinigten Staaten heftig für Gesells Ideen, und Keynes fand ungewöhnlich lobende Worte, er nannte Gesell einen “fälschlicherweise missachteten Propheten” und sein Werk “tiefgründig originell”.7 In den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg wurde Gesell sogar zum Finanzminister der kurzlebigen Räterepublik Bayern. In den 1920er Jahren gab es an mehreren Orten in Deutschland freiwirtschaftliche Geldexperimente. Die Gesell-Anhänger Hans Timm und Helmut Rödiger gaben ein umlaufgesichertes Tauschmittel namens “Wära” heraus, aber sowohl dort wie überall sonst bedurfte es erst einer Wirtschaftskrise, bis solche Experimente ernsthaft durchgeführt wurden. Echte Veränderung, sei es im öffentlichen oder im privaten Leben, passiert nur selten ohne Krisen.

Der Bergingenieur Max Hebecker konnte das marode Braunkohlebergwerk Schwanenkirchen dank eines Kredites bei der Wära-Tauschgesellschaft in Erfurt sanieren. Im Jahr 1931 konnte der Betrieb wieder aufgenommen werden, indem die Arbeiter ihren Lohn zu zwei Dritteln in Wära ausbezahlt bekamen. Weil auch die Kohle, die jeder brauchte, mit der Wära gekauft werden konnte, wurde sie auch von Händlern und Großhändlern als Tauschmittel akzeptiert. Schwanenkirchen florierte, und innerhalb eines Jahres akzeptierten tausende Geschäfte in Deutschland die Wära, und sogar Banken begannen Einlagen in Wära anzunehmen.8 Das machte die Währung verdächtig. Die deutsche Regierung fühlte sich bedroht und versuchte, die Wära über die Gerichte als illegal zu erklären. Als dieser Versuch misslang, wurde die Währung durch eine Notverordnung verboten.9

Im Jahr darauf druckte die krisengeschüttelte Stadt Wörgl in Österreich ihr eigenes von Gesell und dem Erfolg der Wära inspiriertes Geld. Das Experiment von Wörgl war auf allen Linien ein großer Erfolg.10 Straßen wurden gebaut, Brücken errichtet und Steuerrückstände beglichen. Die Arbeitslosenrate ging stark zurück, und die Wirtschaft blühte auf, was die Aufmerksamkeit der umliegenden Städte erregte. Bürgermeister und Vertreter aus der ganzen Welt kamen nach Wörgl, bis die Regierung – wie in Deutschland – diese Währung verbot, und die kleine Stadt wieder zurück in die Krise schlitterte.

Sowohl die Wära als auch die Währung in Wörgl unterlagen einem Demurrage-Satz von 1% pro Monat. Zeitgenössische Berichte führten darauf die sehr hohe Umlaufgeschwindigkeit dieser Währungen zurück. Statt dass sie Zinseinträge brachte und sich vermehrte, wurde die Akkumulation von Geldreichtum eine Last, ähnlich wie Besitztümer eine Last für nomadische Jäger und Sammler sind. Wie von Gesell vorhergesagt, wurde ein solches verlustbringendes Geld nicht mehr gegenüber anderen Gütern als Wertspeicher bevorzugt. Allerdings ist es unmöglich zu beweisen, dass die belebenden Effekte dieser Währungen tatsächlich von der Demurrage herrührten, und nicht vom Zuwachs der Geldmenge oder von der Stimulation der lokalen Wirtschaft, die eine Lokalwährung wie der Wörgl erzeugt.

Eine andere Währung, die etwa zu dieser Zeit entstand, ist heute immer noch in Gebrauch, der WIR in der Schweiz. Die Währung wird von einer Genossenschaftsbank ausgegeben, und gedeckt ist sie durch die gegenseitige Übereinkunft ihrer Mitglieder, sie als Zahlungsmittel anzuerkennen. Sie wurde von Gesell-Anhängern gegründet und hatte deshalb am Beginn auch eine Demurrage-Gebühr, die aber in der Phase des starken Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschafft wurde.11 Wie ich später ausführen werde, ist Negativzins in einer starken Wachstumsphase unnötig. Heute, wo wir uns einer Gleichgewichtswirtschaft annähern und in eine neue Entwicklungsphase übergehen, könnte er wieder attraktiv werden.

In den Vereinigten Staaten wurden in den frühen 1930er-Jahren viele sogenannte “Notwährungen” ausgegeben. Als sich die nationale Währung aufgrund einer Welle von Bankpleiten in Luft auflöste, schufen Bürger und lokale Regierungen ihr eigenes Geld. Die Ergebnisse waren gemischt. Nur wenige orientierten sich an Gesells Modell, aber sie erhoben eher Gebühren auf Transaktionen als wöchentlich oder monatlich auf das Geld selbst.12 Das hat allerdings den gegenteiligen Effekt zur Demurrage, weil damit die Zirkulation und nicht das Geld-Horten bestraft wird. 1933 bereiteten sich mindestens hundert Städte darauf vor, Währungen mit Marken auszugeben, viele davon auch richtig nach dem Modell von Gesell.13 Es wurde sogar mit der Befürwortung durch Irving Fisher ein Gesetzesentwurf sowohl vor dem Repräsentantenhaus als auch vor dem Senat eingebracht, wonach auf Nationalebene eine Schwundwährung im Wert von einer Milliarde Dollar ausgegeben werden sollte. Diese und viele andere der vorgeschlagenen nationalen und regionalen Währungen hätten eine viel, viel höhere Demurrage-Rate gehabt (2% pro Woche), welche zur Selbstauslöschung der Währungen innerhalb eines Jahres geführt hätte. Das ist etwas ganz anderes als die Währung in Wörgl und die meisten anderen heutigen Modelle, aber es zeigt, dass das Grundprinzip einer Schwundwährung ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Hier ein Ausschnitt aus dem Zusatzartikel von Bankhead-Pettengill zur Gesetzvorlage zum Abbau der Arbeitslosigkeit von Costigan-LaFollette (S. 5125) von 1933:

Der Finanzminister möge veranlassen, dass eine Währung der Vereinigten Staaten in Form von mit Marken versehenen Geld-Zertifikaten geprägt und gedruckt werde. Besagte Zertifikate mögen den Nennwert von $1 haben, und die Auflage soll auf $1.000.000.000 beschränkt sein. Besagte Zertifikate mögen eine passende Größe haben, sodass auf der Rückseite derselben Platz zur Anbringung von Marken vorhanden sei. … Die Vorderseite besagter Zertifikate möge inhaltlich Folgendes darlegen: “Dieses Zertifikat ist gesetzliches Zahlungsmittel im Wert von $1 für die Bezahlung aller öffentlichen und privaten Schulden und Verbindlichkeiten, Zölle, Abgaben und Steuern – vorausgesetzt, dass zum Datum seines Transfers an der Rückseite desselben gemäß der dort vorhandenen Liste 2-Cent Postmarken für alle gelisteten Zeitpunkte vor dem Zeitpunkt dieses Transfers angebracht sind.”

Über die Gesetzesvorlage 5125 kam es nie zur Abstimmung, und einen Monat später verbot Roosevelt alle “Notwährungen” per Dekret, als er den New Deal einführte. Nach Bernhard Lietaer war der Grund für Roosevelt nicht, dass lokale und nationale Währungen die Depression nicht erfolgreich beendet hätten, sondern dass sie zu einem Machtverlust für die Zentralregierung geführt hätten.14

Heute stehen wir am Rand einer ähnlichen Krise und vor einer ähnlichen Wahl: Stützen wir temporär die alte Welt durch eine Intensivierung der zentralistischen Kontrolle, oder lassen wir die Zügel los und wagen es, Neuland zu betreten? Kein Zweifel: Die Konsequenzen eines freien Geldsystems wären tiefgreifend. Sie würden die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Psychologie und die Spiritualität verändern. Geld ist so zentral, es prägt unsere Zivilisation so sehr, dass es naiv wäre zu hoffen, es könnte irgendeine glaubwürdige gesellschaftliche Veränderung geben, die nicht auch eine fundamentale Veränderung des Geldes mit einschließt.

12.2 Theorie und heutige Anwendungsmöglichkeiten

Das Modell des Freigelds, so populär es im frühen 20. Jahrhundert war, lag sechzig Jahre lang im Dornröschenschlaf. Jetzt, wo die Wirtschaftskrise alle Sicherheiten des vergangenen halben Jahrhunderts zertrümmert hat, werden Modelle, die aus der Großen Depression hervorgingen, wiederentdeckt. Dazu gehört auch der erneute Aufschwung des Keynesianismus, seit die beiden monetaristischen Allheilmittel zur Anregung der Wirtschaft, also Herabsetzung der Zinssätze und Ankauf von Staatsanleihen, ein Limit erreicht haben: Die Zentralbanken können die Zinssätze nicht unter die “Null-Prozent-Untergrenze” absenken. Die Standardantwort der Keynesianer (die freilich einer unvollständigen Keynes-Lektüre geschuldet ist) lautet: Steueranreize setzen, also die erschlaffenden Konsumausgaben durch Staatsausgaben ersetzen. Das erste Konjunkturprogramm von Barack Obama war eine keynesianische Maßnahme, die wahrscheinlich aber sogar für Keynesianer nicht kräftig genug war.

Das Problem der Null-Prozent-Untergrenze brachte sogar Leute aus dem Mainstream auf die Idee von negativen Zinsen: In meiner Recherche zu diesem Kapitel stieß ich auf einen Text eines US-Notenbankökonomen15, einen Beitrag eines Harvard Ökonomen in der New York Times16 und einen Artikel im Magazin The Economist17. Wenn Keynesianische Impulse fehlschlagen (letztendlich weil die Commons aufgebraucht werden, wie ich erörtert habe), könnte eine um vieles radikalere Schwundwährung als Lösungsmöglichkeit am Horizont auftauchen. Gerade befindet sich die Wirtschaft in einer schwachen Erholungsphase, und noch besteht die wahnhafte Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität. Aber weil die verschiedenen Formen des gemeinschaftlichen Kapitals praktisch aufgebraucht sind, wird die Erholung blutleer sein, und ein “Normalzustand” wird in immer weitere Ferne rücken.

In Japan kam es zum ersten offensichtlichen Scheitern eines keynesianischen Wachstumsimpulses, als die in den 1990ern begonnenen massiven Infrastrukturausgaben das Wirtschaftswachstum nicht wieder anheizen konnten. In jeder hochentwickelten Wirtschaft gibt es nur mehr wenig Spielraum für weiteres Inlandswachstum. In den letzten zwanzig Jahren sah man die Lösung darin, das Wachstum aus den Entwicklungsländern zu importieren, indem man dort die sozialen und natürlichen Commons zu Geld machte, um damit die eigene Schuldenpyramide finanziell zu stützen. Das kann verschiedene Formen annehmen: Schuldensklaverei, wenn eine Nation dazu gezwungen wird, von einer relativ autarken Subsistenzwirtschaft zur Warenproduktion überzugehen, um Auslandskredite zurückzahlen zu können, oder Dollar-Hegemonie, wenn hochproduktive Länder wie China keine andere Wahl haben, als die privaten und öffentlichen Schulden der USA zu finanzieren (denn was machen sie sonst mit diesen Handelsüberschüssen in Dollars?). Irgendwann einmal muss aber auch die Scheinlösung, das Wachstum zu importieren, scheitern; dann nämlich, wenn Entwicklungsländer und der ganze Planet an die selben Grenzen stoßen wie die entwickelten Länder.

Die offiziellen Wirtschaftsstatistiken verschleiern, dass die westlichen Ökonomien wahrscheinlich schon seit zwanzig Jahren in einer Nullwachstumsphase stecken. Was an Wachstum stattgefunden hat kam großteils aus Bereichen wie Immobilienblasen, der Gefängnisindustrie, dem Gesundheitssektor, aus Versicherungen und Finanzdienstleistungen, dem Bildungssektor, der Waffenindustrie und so weiter. Je teurer das alles wird, desto mehr wäre die Wirtschaft gewachsen, so nimmt man an. Ein Großteil des Wachstums im Internetsektor zum Beispiel ist eigentlich eine versteckte Form des importierten Wachstums. Internetbasierte Gewinne beruhen meist auf Verkauf und Werbung, nicht auf der Neuproduktion. Damit schmieren wir die Räder der Fließbänder, auf denen Konsumgüter von China in den Westen transportiert werden. In jedem Fall können Entwicklungsländer den Wachstumsmotor nicht für immer am Laufen halten. Je langsamer er läuft, desto wichtiger wird es, die Null-Prozentgrenze zu unterschreiten.

Während es ziemlich bizarr wirkt, Marken auf eine Währung zu kleben, haben kürzlich mehrere berühmte Ökonomen moderne Alternativen dazu vorgeschlagen. Weil das meiste Geld sowieso schon in elektronischer Form vorliegt, ist die Hauptmaßnahme eine Art von Liquiditätssteuer (wie schon 1935 von Irving Fischer vorgeschlagen), oder dementsprechend ein Negativzins auf Einlagen bei der Notenbank. Diese Maßnahme ist ein Vorschlag von Willem Buiter, damals Wirtschaftsprofessor und heute Chefökonom bei Citibank, den er 2003 in einem Artikel im Economic Journal und dann 2009 in der Financial Times veröffentlicht hatte18. Auch der Wirtschaftsprofessor aus Harvard Greg Mankiw19 und der Präsident der American Economics Association Robert Hall haben diese Idee angesprochen20, und sie wurde sogar von Ökonomen der Federal Reserve diskutiert21. Ich hoffe, diese Namen machen klar, dass es sich hier nicht um eine Schnapsidee handelt.

Natürlich müsste eine physische Währung denselben Verfallsraten unterliegen wie die Einlagen. Das könnte entweder nach Gesells Methode bewerkstelligt werden, indem die Scheine ein Ablaufdatum haben, oder die Währung könnte ersetzt werden durch (oder umdefiniert werden als) Inhaberpfandbriefe mit einem Negativzins. Man könnte eine Bargeldwährung verwenden, die sich von der offiziellen Verrechnungseinheit unterscheidet, oder man könnte den Wechselkurs zwischen Bargeldeinlagen und der Währung schwanken lassen.22 Eine andere Option wäre es, alles offizielle Bargeld zu verbieten, was die Macht der Regierung unheimlich stärken würde, weil jede elektronische Transaktion aufgezeichnet werden könnte. So furchteinflößend das für jene ist, die dem Überwachungsstaat misstrauen (darunter auch ich), muss ich auf diese Bedenken leider antworten: “Zu spät”. Schon heute werden sowieso fast alle wichtigen Transaktionen außer dem Drogenhandel elektronisch abgewickelt. Bargeld wird auch weitgehend in der Schattenwirtschaft verwendet, um Steuern zu umgehen. Das wäre nicht mehr nötig, wenn nicht mehr die Einkommen sondern die Ressourcen besteuert würden, wie ich es vorschlage.

Außerdem spricht nichts dagegen, dass neben der offiziellen elektronischen Negativzinswährung auch inoffizielle Währungen florieren. Ob diese elektronisch oder aus Papier sind, hängt von der Anwendung ab: Wahrscheinlich würden kommerzielle Tauschringe und Kredit-Kooperativen elektronisches Geld verwenden, während lokale, gemeinschaftsbasierte Währungen eher aus Papier sein könnten. Auf Transaktionen mit solchen Währungen hätte die Zentralregierung jedenfalls keinen Zugriff. Die jeweilige Gemeinschaft würde bestimmen, wie weit Aufzeichnungen über die Transaktionen geführt werden. Das Wirtschaftsleben von Menschen, die sich ausschließlich in einer lokalen Wirtschaft bewegen, wie Hippies, Aussteiger und andere Menschen, die ich liebe, wäre für die Zentralbehörden unsichtbar. Es sprechen aber auch Gründe dafür, alle Transaktionen und Rechnungsunterlagen nicht nur vor der Regierung sondern vor allen offenzulegen. Das hat man auch tatsächlich als Schutzmaßnahme gegen den Überwachungsstaat vorgeschlagen: Die Überwachungstechnologie sollte öffentlich sichtbar und allgegenwärtig sein. Das findet durch die Zunahme an Videokameras in Handys, tragbaren Spielkonsolen und anderen Geräten ohnehin schon statt. Wenn die Aktivitäten der Regierung für die Bürger genauso transparent sind wie die Aktivitäten der Bürger für die Regierung, dann werden wir eine wahrhaft offene Gesellschaft haben.

Ich möchte die Umsetzbarkeit der modernen Negativzins-Modelle betonen. Während eine Schwundwährung mit Klebemarken nach Gesell wie ein anachronistisches Hirngespinst erscheint, das die Wirtschaft massiv stören würde, erfordert eine Einlagegebühr auf Bankguthaben praktisch keine neue Infrastruktur. Es wird vielmehr ein Weg weiterverfolgt, den die Finanzpolitik schon eingeschlagen hat. Die Federal Reserve, die Zentralbanken, das Bankensystem könnten intakt bleiben. Natürlich würden tiefgreifende Veränderungen folgen, aber sie fänden im Zuge einer Entwicklung statt, wodurch der Gesellschaft ein Zusammenbruch des Finanzsystems und ein völliger Neubeginn erspart bliebe. Wie ich in Kapitel 5 schrieb: “Die heilige Ökonomie ist Teil einer ganz anderen Art von Revolution, einer Transformation, nicht einer Säuberungsaktion.”

Manche Zentralbanken liebäugelten schon mit Negativzins. Im Juli 2009 rutschte die Riksbank (die schwedische Zentralbank) ins Minus und hob daraufhin eine 0.25% Gebühr auf Einlagen ein, ein Satz, der bis Februar 2010 gleich blieb.23 Das ist praktisch null, aber dieselbe Rechtfertigung, mit der die Zinsrate so tief gesenkt wurde, gilt auch für weitere Absenkungen. Die Riksbank, Buiter, Mankiw und andere Verfechter von Negativzinsen im Mainstream betrachten das als temporäre Maßnahme, um die Banken dazu zu zwingen, wieder Geld zu verleihen und günstige Kredite zur Verfügung zu stellen, bis die Wirtschaft wieder zu wachsen beginnt. Ab dann würden die Zinsen vermutlich wieder über null steigen. Wenn wir aber in eine permanente Nullwachstumswirtschaft geraten, werden die negativen Zinsen auch permanent sein.

Ob die Zinsen positiv oder negativ sein sollen, hängt davon ab, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. In der alten Denkweise versuchte die Geldpolitik das Wirtschaftswachstum anzukurbeln oder es auf gleichbleibendem Niveau zu halten. Nach der neuen Denkweise wäre es das Ziel der Geldpolitik, den Basiszins an das Wirtschaftswachstum (oder den Wachstumsrückgang) anzupassen. Keynes meinte, dieser solle „in etwa gleich dem Überschuss der Kapitalmarktzinsen über die Grenzleistung des Kapitals entsprechend einer Reinvestitionsrate, die mit Vollbeschäftigung vereinbar ist“ sein. Diese Formel müsste modifiziert werden, wenn wir, wie ich im Kapitel 14 vorschlage, Vollbeschäftigung nicht länger als soziales Ziel verfolgen können – und das sollten wir, weil das eine notwendige Konsequenz einer Gleichgewichtswirtschaft ist und mit einer sozialen Dividende gar nicht so erschreckend wäre. Keynes schlägt vor, die Liquiditätssteuer so zu wählen, dass sie den Überschuss an Zinsen gegenüber dem durchschnittlichen Ertrag auf Investitionen in produktives Kapital ausgleicht. Mit anderen Worten, sie muss in einer Höhe angesetzt werden, dass es keinen Vorteil mehr bringt, Reichtum zu halten, statt ihn zu investieren.

Buiter und Mankiw sind keine Linken, und das ist beachtlich, weil ihre Vorschläge doch gegen die Interessen der Gläubigerklasse sind, deren Interessen die Konservativen typischerweise vertreten. Linke Ökonomen fordern oft eine Art Äquivalent zur Demurrage: die Inflation. Mathematisch ist die Inflation in ihren Auswirkungen einer Verfallswährung sehr ähnlich, weil sie den Geldkreislauf anregt, vom Horten abhält, und die Schuldenrückzahlung einfacher macht. Freigeld hat aber einige wichtige Vorteile gegenüber der Inflation: Es eliminiert die klassischen Kosten der Inflation wie den Kostenanstieg, der durch das Anpassen der Preise entsteht (“Speisekarteneffekt”) oder die Kosten, die durch die häufiger notwendigen Bankgeschäfte entstehen (“Schuhsohlenkosten”). Aber vor allem trägt es nicht zur Verarmung von Menschen mit fixem Einkommen bei. Hier ein typisches Argument für die Inflation von Dean Baker vom Centre for Economic Policy Research:

Wenn die Politik das Defizit nicht mehr vergrößern kann, stellt die Geldpolitik ein zweites potentielles Werkzeug zur Verfügung, um die Nachfrage zu erhöhen. Der Rat der amerikanischen Zentralbank kann über die quantitative Lockerung hinaus eine Strategie der bewussten moderaten Inflation (z.B. 3- 4%) einschlagen, wodurch der reale Zinssatz negativ wird. Das hätte außerdem den Vorteil, dass die große Last der Hypotheken gemildert würde, unter denen zehntausende von Hausbesitzern nach dem Kollaps der Immobilienblase leiden.24

Das Problem ist nur: Wie soll die Zentralbank in einer deflationären Lage, in der die Banken kein Geld verborgen, eine Inflation erzeugen? Das ist die größte Schwierigkeit, wenn Inflation als Lösung in einer Situation herhalten soll, in der Überschuldung und Überkapazitäten herrschen. Durch quantitative Lockerung wird ein hochliquider Vermögenswert (Notenbankgeld, Reserven) gegen weniger liquide (z.B.: verschiedene Finanzderivative) getauscht. Aber das erzeugt noch keine Inflation der Preise oder Gehälter, solange das neue Geld nicht die Menschen erreicht, die es ausgeben werden.25 Selbst wenn die Zentralbank für alle öffentlichen und privaten Schulden Geld druckt, bleibt das grundlegende Problem bestehen. Wegen der Null-Prozentmarke konnte die Fed sich nicht aus der Schuldenfalle von 2008/2009 herausinflationieren. Hier kommen wir auf die ursprüngliche Motivation für Freigeld zurück: Das Geld soll zum Zirkulieren gebracht werden.

In einem Geldsystem mit negativen Zinsen wären Banken bemüht, keine Reserven zu halten. Bei Negativzinsen in der Höhe von 5- 8% (wie es Gesell, Fisher und andere Ökonomen für sinnvoll hielten), wäre es sogar im Interesse der Banken, Kredite zu 0% Zinsen zu vergeben, eventuell sogar Negativzinskredite. Jetzt werden Sie fragen: “Wie verdienen sie damit Geld?” Sie würden es im Grunde genauso wie heute machen.26 Einlagen hätten auch Negativzinsen, nur in geringerer Höhe als die Kreditzinsen. Banken würden beispielsweise Sichteinlagen zu -7% Zinsen anbieten, und Termineinlagen zu vielleicht -5% oder -3%, und Kredite würden sie zu -1% oder 0% vergeben. (Jetzt sieht man auch, warum Bargeld genauso entwertet werden müsste – wer würde es andernfalls bei der Bank zu negativen Zinsraten hinterlegen?)

Negativzinsen auf Einlagen sind mit der bestehenden Finanzinfrastruktur kompatibel: Wir könnten die Wertpapiermärkte, die Interbankenmärkte, und sogar, wenn wir das wollen, den Apparat für Kreditverbriefung und Derivatehandel beibehalten. Was sich ändert, ist einzig der Zinssatz. Jede dieser Institutionen hat einen höheren Zweck, der in ihr schlummert, wie ein rezessives Gen, das auf die Zeit seiner Expression wartet. Das trifft genauso auf die am meisten geschmähte unter den Institutionen, das “Herz” des Finanzsystems zu: die Federal Reserve (und andere Zentralbanken).

Entgegen dem orthodoxen Glauben pumpt das Herz nicht Blut durch das System, sondern empfängt es vielmehr, hört ihm zu und sendet es wieder hinaus.27 Es ist ein Wahrnehmungsorgan. Je nachdem, was es durch das Blut wahrnimmt, produziert das Herz verschiedene Hormone (viele von ihnen wurden erst kürzlich entdeckt), die mit anderen Körperteilen kommunizieren, so wie seine eigenen Zellen durch exogene Hormone beeinflusst werden. Diese lauschende, modulierende Rolle des Herzens eröffnet eine ganz andere Perspektive auf die Rolle einer zentralen monetären Autorität: ein Organ, das die Bedürfnisse des Systems hört und darauf reagiert, anstatt Geld durchs System zu pumpen. Die Fed ist da, um den Puls der Wirtschaft zu fühlen und die Geldmenge so zu regulieren, dass die Zinssätze das passende Niveau haben.28 Neues Geld könnte genauso wie heute (durch Offenmarktgeschäfte) in die Wirtschaft gepumpt werden oder durch Staatsausgaben in Form von Fiatgeld, je nachdem, welche Art von Gebühren auf die Nutzung der Commons erhoben werden; andernfalls würden die Reserven ungeachtet des Geldbedarfs für die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Aktivitäten jedes Jahr schrumpfen. Das Resultat wäre dasselbe Szenario von Zahlungsverzügen, Knappheit und Vermögenskonzentration, das uns heute bedroht. Daher brauchen wir immer noch ein finanzielles Herz, das auf das Blut hört und signalisiert, ob wir mehr (oder weniger) davon brauchen.

Die aufmerksame Leserin mag einwerfen, dass Menschen auf ein anderes Tauschmittel wie beispielsweise Gold oder Wertpapiere umsteigen, sobald Währung und Bankeinlagen mit Negativzinsen belegt werden. Wenn auch Sie diesen Einwand erheben, sind Sie in guter Gesellschaft. Voll des Lobes für die Ideen Gesells äußerte John Maynard Keynes nämlich auch folgende Warnung:

“Wären Banknoten durch das Markensystem ihrer Liquiditätsprämie beraubt, so träte eine große Anzahl an Substituten an ihre Stelle: Buchgeld, Schulden auf Abruf, Fremdwährungen, Schmuck und generell Edelmetalle, und so weiter.”29

Diesem Einwand kann mehrfach entgegnet werden (und auch Keynes sah das nicht als unüberwindliches Hindernis, er machte nur auf eine “Schwierigkeit” aufmerksam, der sich Gesell “nicht gestellt” habe). Wie oben beschrieben, unterläge das Buchgeld derselben Entwertung wie das Bargeld. Schulden auf Abruf machen eine Risikoprämie erforderlich, die die Liquiditätsprämie kompensiert.30 Waren, Schmuck und so weiter haben viele Nebenkosten (Lagerung, Versicherung…). Vor allem aber ist Geld eine soziale Übereinkunft, die durch Gesetze, durch Gepflogenheiten und andere Formen von Konsens bewusst ausgewählt und angewendet werden kann. Letztlich urteilte Keynes:

“Die Idee, die der Schwundwährung zugrunde liegt, ist fundiert.”

Aus praktischer Sicht ist alles in der materiellen und sozialen Welt mit Kosten verbunden, wie Gesell es am Beispiel der Zeitung und der Kartoffeln zeigte. Maschinen und Werkzeuge gehen kaputt, erfordern Wartung und veralten. Selbst die wenigen Substanzen, die nicht oxidieren, wie Gold und Platin, müssen transportiert, bewacht und gegen Diebstahl versichert werden. Münzen aus Edelmetall können auch abgeschabt oder beschnitten werden. Dass Geld eine Ausnahme vom Naturgesetz der Vergänglichkeit ist, gehört mir zum Ideologiegebäude, das den Menschenüber die Natur stellt. Die alten Griechen schufen die Vorstellung vom Geist – ewig, abstrakt und immateriell, der ähnlich über der Natur steht wie das seltsame Ding namens Geld, von dem sich diese Vorstellung unbewusst beeinflussen ließ. Diese Unterteilung der Welt in Geist und Materie und der daraus folgende Umgang mit der Welt, als wäre sie nicht heilig, kommt an sein Ende. Mit ihr zusammen endet die Art von Geld, die diese Teilung ursprünglich auslöste. Geld wird nicht länger vom universellen Gesetz der Vergänglichkeit ausgenommen sein.

Die “Schwierigkeit”, auf die Keynes aufmerksam machte, unterstreicht, wie wichtig es ist, keine künstlichen Wohlstandsspeicher zu schaffen (wie heutzutage Geld einer ist), die die Naturgesetze verletzen. Ein historisches Beispiel sind die Landeigentumsrechte, die einmal in gleicher Weise ein Mittel zur Vermögenskonzentration waren, wie das Geld heute bei uns. Negativzinsen auf Geld müssen, wie von George oder Gesell vorgeschlagen, von Abgaben auf Grundbesitz und im Grunde auf jede Quelle einer “ökonomischen Rente” begleitet werden. Die materiellen Commons, das Genom, das Ökosystem und das elektromagnetische Spektrum müssen genau so wie die kulturellen Commons, z. B. Ideen, Erfindungen, Musik und Geschichten denselben Kosten wie das Geld unterliegen, sonst bewahrheitet sich die Befürchtung von Keynes. Glücklicherweise trifft sich das Richtige mit der Logik, wenn die gesellschaftliche Verpflichtung, die aus der Nutzung von Commons erwächst, auf der anderen Seite als Liquiditätssteuer auf jedes Wertaufbewahrungsersatzmittel in Erscheinung tritt. Grundsätzlich handelt es sich um das gleiche Prinzip, sowohl beim Geld als auch bei den Commons: Wir können beides nur behalten, wenn wir es auf eine gesellschaftlich produktive Weise nutzen. Häufen wir es nur an, werden wir es verlieren.

Nicht jeder würde vom Freigeld profitieren, zumindest auf kurze Sicht. Wie die Inflation nützt auch Schwundgeld den Schuldnern und schadet den Gläubigern. Das wird in diesem Kommentar zur Inflation gut zusammengefasst:

Die Grundursache für diesen Wunsch nach einer sehr niedrigen Inflation ist der Wunsch der Klasse der Anleiheninhaber nach einem risikofreien Ertrag auf Investitionen und Einlagen. … Es ist ein Skandal, dass Menschen eine Rendite ausbezahlt bekommen sollen für Bargeld, das sie an die Zentralbank verborgen, die das Geld druckt. … Es braucht reiche, niedrig besteuerte Menschen, die es sich leisten können, ein Risiko einzugehen, und so Investitionen und Wachstum in der Realökonomie vorantreiben. Wenn sie einen Teil ihres Portfolios in Form von risikofreien Anlagen wollen, dann sollten sie nicht erwarten, dass diese auch noch wachsen.31

Dieses Argument schließt an die lange Tradition von George und Gesell an, auf die auch ich mich stütze: Menschen sollten nicht die Möglichkeit haben, einfach nur aufgrund von Eigentum Profit zu machen. Vermögende sind die Hüter und Verwalter des Reichtums, und wenn sie ihn nicht zum Wohl der Gesellschaft einsetzen, dann sollte der Reichtum zu anderen fließen, die das tun.

Frühere Revolutionäre hatten erkannt, dass Vermögensanhäufung in den meisten Fällen unrechtmäßig vonstatten gegangen war, und wollten durch Enteignungen und Neuverteilung reinen Tisch machen. Ich bin für einen sanfteren, schrittweisen Ansatz. Eine Möglichkeit wäre die Besteuerung von Geldvermögen, sodass Vermögen nur aufrechterhalten werden können, wenn sie mit Risiko investiert werden. Wir könnten auch sagen, dass dadurch vernünftige Entscheidungen darüber getroffen werden sollen, wohin der magische Fluss der menschlichen Kreativität geleitet wird. Selbstverständlich ist das eine Fähigkeit, die es verdient, belohnt zu werden. Und das ist das entscheidende fehlende Puzzleteil in den marxistischen Werttheorien, die die unternehmerische Dimension bei der Allokation von Kapital ignorieren.

Während die mutigen, aber immer noch dem Mainstream zuzurechnenden Ökonomen, die ich erwähnte, Negativzinsen als eine temporäre Maßnahme betrachten, um Kreditvergabe zu fördern und der deflationären Liquiditätsfalle zu entgehen, liegt das wahre Potential dieses Werkzeugs viel tiefer. Eine Liquiditätsfalle ist keine vorübergehende Anomalie, weil eine Wirtschaftsblase geplatzt ist. Sie ist der allgegenwärtige Normalzustand, der entsteht, weil die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals schwindet32, die wiederum eine Folge des technologischen Fortschritts und der Konkurrenz ist. Wie Keynes zeigte:

Sowie der Bestand an Vermögenswerten wächst, welche dort beginnen, wo die Grenzleistung zumindest die selbe Höhe wie die Zinsrate hat, tendiert ihre Grenzleistung (aus offensichtlichen Gründen, die schon aufgezählt wurden) zu fallen. Daher wird ein Punkt kommen, an dem es sich nicht länger auszahlt, sie zu produzieren, außer, dass die Zinsrate pari passu fällt. Wenn es keinen Vermögenswert mehr gibt, dessen Grenzleistung die Zinsrate erreicht, wird die weitere Produktion von Kapitalvermögenswerten zum Erliegen kommen.33

Wie ich schon darlegte, wurde das tatsächliche Eintreten dieser theoretischen Möglichkeit lange hinausgezögert, da Technologie und Imperialismus sich an den Commons schadlos hielten und von dort Güter und Leistungen in die Geldwirtschaft überführten. Wenn die Commons erschöpft sind, wächst die Notwendigkeit, die Zinsbarriere niederzureißen. Vorausschauend schreibt Keynes:

“Daher waren jene Reformer, welche eine Abhilfe suchen, indem sie künstliche Lagerungskosten für Geld schaffen wollen über den Weg eines gesetzlichen Zahlungsmittels, welches periodisch mit Marken zu einem vorgeschriebenen Wert versehen werden muss, um seine Eigenschaft als Geld zu behalten, auf der richtigen Spur. Und der praktische Wert ihrer Vorschläge verdient Beachtung.”34

Eine solche Maßnahme (und deren modernes Äquivalent, das ich diskutiert habe) würde Kapitalinvestitionen mit einer negativen Grenzleistungsfähigkeit erlauben. Mit anderen Worten: Banken würden bereitwillig Geld an Unternehmungen verleihen, die keine oder eine leicht negative Anlagenrendite liefern.

Da die Grundursache unserer Wirtschaftskrise die unvermeidbare Verlangsamung des Wachstums ist, und wir folgerichtig in eine ökologische Gleichgewichtswirtschaft übergehen, bieten Schwundwährungen mehr als nur eine Kurzzeitlösung für eine stagnierende Wirtschaft. Sie versprechen eine nachhaltige Langzeitgrundlage für eine dauerhaft nicht-wachsende Wirtschaft. Früher verursachten die Unternehmenskonzentration oder ein stagnierendes Wachstum menschliches Leid: wirtschaftliche Polarisierung und ein Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich. Freigeld verhindert das, indem es einen Weg eröffnet, wie Geld zirkulieren kann, ohne dass diese Bewegung durch wachstumsabhängige Kreditvergabe erzeugt werden muss.

Zusammen mit den anderen Veränderungen in diesem Buch wird Freigeld tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unser Denken haben. Wir haben uns so sehr an die Welt des Wuchergeldes gewöhnt, dass wir viele seiner Auswirkungen für wirtschaftliche Grundgesetze oder für die menschliche Natur halten. Wie ich noch zeigen werde, wird ein Geldsystem, dem ein neues Selbstverständnis und ein neuer Gründungsmythos – das in einer ko-kreativen Partnerschaft mit der Erde lebende Selbst in Verbundenheit – zugrunde liegt, ganz andere Auswirkungen haben. Die über die Jahrhunderte entstandenen Sichtweisen werden nicht mehr stimmen: Neid, Knappheit, Quantifizierung und Kommerzialisierung aller Dinge, die “Zeitpräferenz” für unmittelbaren Konsum, der schnelle Gewinn auf Kosten der Zukunft, der fundamentale Gegensatz zwischen den Finanzinteressen und dem Gemeinwohl, oder die Gleichsetzung von Sicherheit mit Vermögensanhäufung werden ihren axiomatischen Status verlieren.

12.3 Die Schuldenkrise: Eine Gelegenheit für den Wandel

Eine günstige Gelegenheit für den Übergang zu Negativzinsgeld könnte mit der “Schuldenbombe” vorliegen, die 2008 die Weltwirtschaft fast zum Erliegen brachte. Diese Zeitbombe bestehend aus hohen Staatsverschuldungen, Hypothekenschulden, Kreditschulden, Studienkrediten und anderen Schulden, die niemals zurückgezahlt werden können, ist nie entschärft worden. Man hat ihre Explosion nur verzögert. Es wurden neue Kredite vergeben, um den Schuldnern zu ermöglichen, die alten zurückzuzahlen. Aber ohne höheres Einkommen der Schuldner (das nur bei Wirtschaftswachstum möglich ist) , wird das Problem in die Zukunft verschoben, und das macht es nur schlimmer. An einem gewissen Punkt ist die Zahlungsunfähigkeit unvermeidbar. Gibt es einen Ausweg?

Es gibt einen. Die Antwort wäre eine moderne Form der Wirtschaftsreform von Solon vor 2600 Jahren: ein Schuldenerlass und die Reform von Geld und Eigentum. Es gibt einen Punkt, an dem es notwendig wird, sich der Wirklichkeit zu stellen: Die Schulden werden niemals zurückgezahlt werden. Entweder können sie aufrechterhalten werden, und die Schuldner, Private und Staaten, bleiben Sklaven für immer, oder sie werden erlassen, und es wird reiner Tisch gemacht. Das Problem bei der zweiten Möglichkeit ist, dass Sparguthaben und Schulden zwei Aspekte derselben Sache sind. Sparguthaben und Investitionen würden zugleich mit den Schulden getilgt, gefolgt von einem Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems. Ein plötzlicher Kollaps würde großflächig soziale Unruhen, Krieg, Revolution, Hunger und Ähnliches auslösen. Um das zu verhindern, könnten die Schulden graduell verringert werden.

In der Finanzkrise 2008 zeichnete sich ab, wie das durch einen Übergang zu einer Negativzinswirtschaft funktionieren könnte. Als in der Krise große Finanzinstitutionen mit Insolvenz bedroht waren, reagierte die Federal Reserve darauf, indem sie faule Kredite zu Geld machte: Sie kaufte diese auf und tauschte so toxische Papiere gegen Bargeld. Weiterhin wurden durch quantitative Lockerung Staatsschulden (deren Rückzahlung auch höchst unwahrscheinlich ist) in Geld umgewandelt. Um den totalen Zusammenbruch zu vermeiden, werden in der Zukunft ähnliche Maßnahmen sogar in noch größerem Umfang erforderlich sein.

Das Problem ist, dass dieses ganze Geld an die Gläubiger und nicht an die Schuldner geht. Die Schuldner können weiterhin nichts zurückzahlen, und daher werden die Gläubiger keine neuen Kredite vergeben. Die Vorgehensweise der Fed wurde scharf kritisiert, weil sie im Prinzip räuberischen Finanzinstitutionen kaltes, hartes Bargeld gab im Austausch für verantwortungslos getätigte und weitergehandelte Fehlinvestitionen, deren Marktwert wahrscheinlich nur mehr einen Bruchteil betrug. Dafür bekamen sie den Nominalwert, und um das Ganze noch schlimmer zu machen, investierten sie das Bargeld in risikofreie Anleihen, zahlten es als Prämien an ihre Manager oder kauften damit kleinere Unternehmen auf. Zugleich wurde den Schuldnern nichts von ihren Schulden erlassen. Diese Vorgehensweise trug in keiner Weise dazu bei, die Polarisierung von Reichtum zu entschärfen.

Was würde passieren, wenn man die Schulden in Freigeld umwandelt? Dann verlieren die Gläubiger ihr Geld nicht über Nacht, wie das bei Konkursen oder Finanzcrashs der Fall wäre. Die Rettungsaktion würde sie aber auch nicht noch reicher machen, weil dieses Kapital an Wert verliert. Und was die Schuldner betrifft, könnte die Währungsbehörde die Schulden in einem angemessenen Maß reduzieren oder annullieren (die Entscheidung darüber würde wahrscheinlich im Zuge eines politischen Prozesses gefällt). Das könnte bedeuten, dass die Zinsrate auf null reduziert wird, oder es wird sogar der Hypothekenbetrag reduziert. So könnten zum Beispiel Zinsen für Studienkredite auf null gesenkt werden, die Höhe von Hypotheken könnte auf das Niveau von vor der Blase zurückgesetzt werden, und die Staatsschulden der Dritten Welt könnten gänzlich erlassen werden.

Obwohl es zwar stimmt, dass eine solche Monetarisierung von Schulden die Geldmenge im Umlauf enorm vergrößern könnte, würde sie über die Zeit allerdings wieder zurück schrumpfen, weil das Geld einer Demurrage unterläge. Die Geldbehörden könnten auch eine raschere Schrumpfung der Geldmenge durch den Verkauf der restrukturierten Schulden am freien Markt erzielen.

Ohne Negativzinsen oder einen solchen Schuldenerlass sind Rettungsaktionen der Zentralbank nichts anderes als „Gratisgeld“ (nicht Freigeld) für jene Menschen, die schon am meisten davon haben. Wenn es den großen Banken und Geldgebern schon erlaubt ist, ihren Gewinn zu behalten, dann sollten sie dafür zumindest ein System akzeptieren, das nicht zu weiterer Akkumulation führt. Ja, mit diesem Vorschlag laufen die finanziellen Interessen Gefahr, wenn auch graduell, zu verlieren – aber was ist denn die Alternative? Die wachsende Polarisierung von Wohlstand ist nicht zukunftsfähig.

Die Gelegenheit, die wir 2008 hatten, wird sich wieder bieten, weil sich die Schuldenkrise (ohne übernatürlich hohes Wirtschaftswachstum) nicht in Luft auflösen wird. Jedes Mal wurden noch mehr Schulden aufgenommen, die immer weiter wachsen, und die von Einzelnen und Unternehmen auf die Staaten und wieder zurück übertragen werden. Als zum Beispiel 2010 die irischen Banken knapp vor dem Konkurs standen, wurden sie vom Staat gerettet. Das Problem wurde verstaatlicht, was die Staatsschuldenkrise auslöste. Um eine Katastrophe zu verhindern, vergaben der IWF und die EZB neue Kredite zu 6% Zinsen an Irland, damit das Land die alten bezahlen konnte. Wächst die irische Wirtschaft nicht mindestens um 6% pro Jahr (unmöglich angesichts der harten Sparmaßnahmen, die die Bedingung für die Kreditvergaben waren), so wird das Problem in ein paar Jahren wieder und noch verschärft auftreten. Wir verschieben das Problem nur in die Zukunft.

Die Anleiheninhaber wollen keinen Verlust hinnehmen. Sie wollen immer mehr für sich selbst.35 Auf lange Sicht ist es mathematisch unmöglich, diesen Wunsch zu erfüllen. Er kann nur erfüllt werden, wenn der Rest der Gesellschaft bereit ist, immer schlechtere Bedingungen zu akzeptieren: mehr Sparmaßnahmen, größere Armut, und schrumpfende Einkommen, die zunehmend in die Schuldenrückzahlung fließen.

An einem Punkt werden wir als Gesellschaft sagen: „Es reicht!“ Eine Rettung wird immer noch nötig sein, weil die Folgen eines plötzlichen Zusammenbruchs des Gesamtsystems katastrophal wären. Aber wenn es dazu kommt – möglicherweise gleichzeitig in mehreren Schuldenkategorien – stellen wir uns der Wahrheit. Die Vermögensanhäufung und der dahinterstehende Wucher müssen beendet werden. Wir haben wahrscheinlich keine andere Wahl, als die Reichen zu retten, weil jeder Teil der globalen Wirtschaft mit allen anderen zusammenhängt, aber diese Rettung soll einen Preis haben: die graduelle Befreiung der Gesellschaft von Schulden.

12.4 An die Zukunft denken

Lassen Sie uns inmitten all dieser technischen Details von Geld und Finanzen das Herzstück des Unterfangens nicht aus den Augen verlieren: Geld soll wieder seinen wahren Zweck als Vermittler zwischen Fähigkeiten und Bedürfnissen erfüllen und als magischer Talisman unsere Kreativität koordinieren, damit sie einem gemeinsamen Ziel dient. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn ich sage, dass Geld ein Teil dieser schöneren Welt ist, von der mein Herz mir sagt, sie sei möglich. Geld als offensichtlicher Grund für so viel Zerstörung und Böses war ja sehr lange abstoßend für mich.

Freilich bezieht sich unsere Abscheu vor dem Geld auf das, was es bisher war, nicht auf das, was es sein könnte. Negativzinsgeld gedeckt durch heilige Dinge in einer ökologischen Wirtschaft stellt die Institutionen des Wucher-Zeitalters auf den Kopf. Es ist revolutionär, es ändert unsere Erfahrungen fundamental. Diese Transformation spiegelt sich auf allen Ebenen wider, von der äußeren zur inneren, von der wirtschaftlichen bis zur spirituellen.

Im Kapitel 9 (“Die Geschichte vom Wert”) formulierte ich die zur Zeit herrschende gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was Geldschöpfung ist, so: “Du sollst Geld nur jenen geben, die noch mehr daraus machen”. Das bedeutet letztendlich, dass man zur Ausweitung der Sphäre von Waren und Leistungen beiträgt. Die Energie der Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, den Geltungsbereich von Geld und Eigentum auszuweiten, also die menschliche Domäne, das, was zum Eigentum geworden ist. Das ist Teil vom Aufstieg der Menschheit zur Herrschaft über die Natur.

Zinsraten unter null zu senken ermöglicht Investitionen mit keinem oder einem negativen Kapitalertrag. Klingt diese Idee kontraintuitiv für Sie? Scheint sie dem ganzen Konzept von “Investition” zu widersprechen? Sie ist auch kontraintuitiv, aber nur, weil unsere Intuition durch eine jahrhundertealte Kultur des Wachstums geprägt wurde; so sehr, dass wir uns kaum eine andere Funktion von Geld oder ein Geschäftsmodell, das nicht auf Profit ausgerichtet ist, vorstellen können. (Natürlich haben wir auch jetzt Non-Profit Organisationen, die sich jedoch grundlegend von den gewinnorientierten Unternehmen unterscheiden. Diese Differenz wird mit der Zeit verblassen.)

Hier ein Beispiel, das zeigt, wie seltsam kontraintuitiv das ist: Stellen wir uns vor, Sie gehen zur Bank und sagen: “Ich möchte Geld für mein Unternehmen ausborgen. Hier ist mein Business Plan: Sehen Sie, wenn Sie mir $1 000 000 borgen, werde ich $900 000 in vier Jahren verdienen. Also hätte ich gern, dass Sie mir $1 000 000 zu einem negativen Zinssatz borgen, und ich werde Ihnen in Raten über vier Jahre $900 000 zurückzahlen.” Die Bank sagt: “Wir lieben Ihren Businessplan, hier haben Sie das Geld.” Warum steigt die Bank darauf ein? Weil sich der Bargeldwert dieser $1 000 000 um eine noch höhere Rate, sagen wir 7%, verringern würde. Nach vier Jahren wären also nur mehr $740 000 übrig. Es ist also also für die Bank vorteilhaft, einen Kredit wie oben beschrieben zu vergeben.

Die Dynamik einer Schwundwährung kann auch so verstanden werden, dass sie wie die Inflation einen Vorgriff auf in Zukunft zu erwartende Erträg e uninteressant macht. In Die Renaissance der Menschheit bringe ich folgendes Beispiel:

Während Zinsen die Spekulation auf künftige Geldflüsse fördern, bietet Demurrage einen Anreiz, langfristig zu denken. Nach der heutigen Kostenrechnung ist ein Wald, der bei nachhaltiger Bewirtschaftung $1 Million pro Jahr einbringt mehr wert, wenn man ihn für einen unmittelbaren Ertrag von $50 Millionen abholzt. (Der “Nettowert” des nachhaltig bewirtschafteten Waldes beträgt nur $20 Millionen, wenn der Diskontsatz 5% beträgt.

Diese Diskontierung der Zukunft führt zu unverantwortlichem kurzsichtigen Verhalten jener Unternehmen, die (sogar ihr eigenes) langfristiges Wohlergehen für ein kurzzeitig gutes Quartalsergebnis opfern. Ein solches Verhalten ist in einer zinsbasierten Wirtschaft völlig rational. Aber in einem Demurrage-System wäre aus reinem Selbstinteresse klar, dass der Wald bewahrt werden muss. Die Gier würde nicht länger zum Raubbau auf Kosten der Zukunft zugunsten schneller Profite heute verleiten. Dieser Aspekt von Demurrage ist höchst attraktiv, weil die exponentielle Vorwegnahme zukünftiger Geldflüsse irgendwann einmal dazu führen wird, dass die ganze Welt zugrunde geht.

Stellen Sie sich vor, Sie sind die Präsidentin oder der Präsident der Erde und erhalten folgendes Angebot von Außerirdischen: “Großer Herrscher / große Herrscherin, ein nachhaltiges Bruttoweltprodukt (BWP) beträgt 10 Billionen Dollar pro Jahr. Wir möchten Euch ein Angebot machen: 600 Billionen Dollar für die ganze Erde. Es stimmt, wir planen alle ihre Ressourcen abzubauen, die Humusschicht zu zerstören, die Ozeane zu vergiften, die Wälder in Wüsten zu verwandeln und sie als Endlager für radioaktiven Müll zu verwenden. Aber denkt darüber nach – 600 Billionen! Ihr werdet alle reich sein!” Selbstverständlich würden Sie das ablehnen, aber im Grunde sagen wir heute kollektiv ja zu diesem Angebot. Wir halten uns haargenau an den Plan der Außerirdischen und verdienen in den nächsten zehn Jahren vielleicht 600 Billionen Dollar (das heutige BWP beträgt 60 Billionen Dollar pro Jahr). Es sind Millionen kleiner Entscheidungen jeden Tag, mit denen wir die Welt in den Ruin treiben.

Und das ist auch noch wirtschaftlich. Zu den vorherrschenden Zinssätzen generieren 600 Billionen Dollar ein jährliches Einkommen von mindestens 20 Billionen Dollar. In Die Renaissance der Menschheit zitierte ich mehrere bekannte Ökonomen, die behaupten, dass die globale Klimaerwärmung oder ein Rückgang der Agrarerträge um 50% nicht so schlimm wäre, weil die Landwirtschaft nur 3% des BIP ausmacht. Schlimmstenfalls würde das BIP (erinnern Sie sich, die Summe des Guten auf der Welt) nur um 1.5% sinken. Das scheint absurd, aber innerhalb der Logik des Wuchers ist das durchaus vernünftig. In einem Artikel in Nature bezifferte Robert Costanza, Professor für ökologische Ökonomie, 1997 den Wert des globalen Ökosystems mit 33 Billionen Dollar36. Das war um nur 20% mehr als das BWP in diesem Jahr. Er meinte es gut und hoffte, dass er damit einen ökonomischen (und nicht nur einen moralischen) Grund liefern konnte, warum die Erde es wert sei, erhalten zu werden. Aber nach der selben Logik, der Logik von “Wert”, wäre es in unserem Interesse, die Erde nicht zu erhalten, wenn wir dafür ein besseres Angebot bekämen.

Im Übrigen, finden SIe es nicht entmutigend, auf das Argument zurückzugreifen, dass wir das Ökosystem bewahren sollten, weil wir damit eine Menge Geld sparen? Dieses Argument unterliegt derselben Grundannahme, die von Beginn an so problematisch war: Dass Geld ein geeignetes Maß für Wert ist, dass alles gemessen und zählbar gemacht werden kann und soll, und dass wir die Entscheidungen treffen können, wenn wir Zahlen addieren.

“Nachhaltigkeit” ist jetzt schon so lange ein Modewort, dass es fast zur leeren Phrase verkommen ist. Und obwohl jeder für Nachhaltigkeit ist – wenn es wirklich darauf ankam, hat doch immer der Profit gewonnen. Wälder sterben, Seen vertrocknen, Wüsten breiten sich aus, und Regenwälder fallen weiterhin dem Kahlschlag zum Opfer. Trotz der größten Anstrengungen von Seiten der Umweltaktivisten seit mittlerweile vier Jahrzehnten hat sich das Tempo der Zerstörung nicht verlangsamt. Überall müssen sie gegen die Macht des Geldes ankämpfen, die immer den kurzfristigen Profit sucht, auch wenn man dadurch auf lange Sicht das eigene Überleben riskiert. Wie Lenin in einem etwas anderen Zusammenhang schrieb: “Die Kapitalisten werden uns das Seil verkaufen, an dem wir sie aufknüpfen werden.” Die Kurzsichtigkeit des Kapitals ist auf einer tiefen Ebene auf die Zinsen zurückzuführen, die den Vorgriff auf künftig zu erwartenden Erträge nötig machen.

Liegen die Zinssätze unter null, dann stellt sich das gegenteilige Denken ein. Nehmen wir noch einmal an, dass Sie der Präsident oder die Präsidentin der Welt sind. Jetzt sieht das Angebot der Außerirdischen nicht mehr so attraktiv aus. Mit negativen Zinsen wäre de facto kein Geldbetrag hoch genug, dass es sich lohnen würde, die Erde zu zerstören, weil das zukünftige Geld wertvoller ist, als der selbe Geldbetrag heute, und weil sein künftiger Wert sogar exponentiell mit der Zeit steigt. Sie würden zu den Außerirdischen sagen: “Wir verkaufen die Erde um keinen Preis.”

Sollten wir das nicht auch heute sagen, wenn die Wirtschaft darauf besteht, der ökologischen Grundlage der Zivilisation und dem Leben selbst einen Preis zu verpassen? Sollten wir das nicht auch sagen, wo immer es darum geht, heute das unendlich Wertvolle gegen eine endliche Summe Geldes zu tauschen? Ich meine, es ist an der Zeit, dass wir aufhören, auf Schönheit, Leben, Gesundheit und die Zukunft unserer Kinder zu spekulieren und sie dadurch aufs Spiel zu setzen.

Mir ist klar, dass mein Beispiel, bei dem die ganze Welt als Spekulationsobjekt behandelt wird, weit hergeholt ist, und dass man eine ökonomische Argumentation konstruieren könnte, um das Beispiel zu entkräften. Mein Punkt ist, dass Negativzinsen fundamental ändern, welche Art von Verhalten als “ökonomisch” gesehen wird. Handlungen, die erst in dreißig, fünfzig oder hundert Jahren Früchte tragen – die also der sprichwörtlichen siebten Generation nutzen – sind auf einmal wirtschaftlich rentabel im Gegensatz zu heute, wo nur ein idealistischer Mensch so etwas in Angriff nehmen würde. Mit Nagativzinsen und einer Schwundwährung werden unsere Ideale nicht länger unserem ökonomischen Eigeninteresse zuwiderlaufen.

Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Sagen wir, Sie überlegen, ob es sich lohnt, eine Photovoltaikanlage zu installieren, um Ihr Unternehmen mit Strom zu versorgen. Die Errichtungskosten betragen, sagen wir, $100 000, und Sie werden damit jährlich $1 000 an Energiekosten einsparen. Heute wäre es nicht ökonomisch, die Solaranlage zu bauen, weil der gegenwärtige jährliche Nettowert von $1 000 Dollar weit unter den $100 000 Dollar liegt (selbst bei sehr niedrigen Zinssätzen). Aber wenn die Zinssätze bei null oder darunter liegen, wird die Entscheidung wirtschaftlich rentabel. Heute treffen Menschen auch schon solche Entscheidungen, obwohl sie nicht rentabel sind, weil die Wahrheit in unseren Herzen der wirtschaftlichen Logik widerspricht. In unseren Herzen wissen wir, dass eine Ideologie, in der Geld gegen das Gute aufgewogen wird, falsch ist. Es ist notwendig, dass wir das Geld und das Gute wieder zurück an ihre angestammten Plätze und in ihr ursprüngliches Verhältnis zueinander setzen.

Noch ein Beispiel: Sagen wir Ihnen gehört ein Wald. Entweder können Sie ihn vernichten, indem Sie ihn verkaufen, damit er für einen unmittelbaren Gewinn von $1 Million gerodet wird, oder Sie schlagen nachhaltig und in alle Ewigkeit Bäume für $10 000 im Jahr. Gut, Zinsen auf $1 Million sind zumindest doppelt so hoch, wie das Einkommen aus der nachhaltigen Bewirtschaftung, also würden Sie den Wald roden lassen. Wenn aber die Zinsraten negativ sind, gilt diese Logik nicht mehr.

Die Internalisierung externer Kosten und eine Schwundwährung zusammen wirken synergistisch, sodass Geld eine Kraft für das Gute werden kann. Die Internalisierung externer Kosten bewirkt, dass öffentliche Interessen zugleich auch die privaten Interessen sind, und die Schwundwährung begünstigt langfristiges Denken. Obwohl beide jeweils eine Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen System darstellen, wird keine allein eine nachhaltige Welt garantieren. Zusammen schaffen sie eine Verbindung zwischen ökonomischen Entscheidungen und dem langfristigen Interesse der Gesellschaft und des Planeten.

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen das langfristige Denken nicht angemessen ist. Wir haben viele Bedürfnisse, die wir lieber sofort als in der Zukunft befriedigen wollen. Wenn ich hungere, ist mir eine Mahlzeit heute lieber als hundert Mahlzeiten im nächsten Jahr. Speziell die Österreichische Schule, aber ganz allgemein die neoklassische Wirtschaftswissenschaft extrapoliert solche Beispiele und behauptet, es läge in der menschlichen Natur, so viel wie möglich sofort zu konsumieren. Ihrer Ansicht nach sind Zinsen eine Art Kompensation für den unmittelbaren Konsumverzicht. Mit anderen Worten würden Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, am liebsten Ihren Nutzen maximieren, indem Sie jetzt sofort Ihr ganzes Geld ausgeben. Nur die Zinsen halten Sie davon ab, weil Sie wissen, dass Sie später noch mehr Geld haben werden. In den Wirtschaftswissenschaften kennt man das als das Postulat derZeitpräferenz. Die Zeitpräferenz – unsere angebliche Präferenz für den unmittelbaren Konsum – ist essentiell für das von Paul Samuelson in den 1930er Jahren entwickelte Discounted-Utility-Modell, das zur Zeit die Grundlage für die meisten Theorien im ökponomischen Mainstream ist. Sie ist auch das Kernstück vieler moderner “Widerlegungen” von Keynes. Ich entdeckte einen einzigen wirtschaftsmathematischen Artikel, der sich mit auf Demurrage basierenden Währungen befasste. Darin wurde das Postulat der Zeitpräferenz als Schlüsselvariable für die Konstruktion eines (fadenscheinigen) Beweises verwendet, dass eine solche Währung das Gemeinwohl gefährde.37

Nach der Keynesianischen Logik, die ich eingesetzt habe, wird die Zeitpräferenz minimiert. Keynes lehnte das Postulat nicht völlig ab, aber er sagte, dass die Menschen natürlicherweise dazu tendierten, verhältnismäßig weniger von ihrem Einkommen auszugeben, wenn es steigt. Offensichtlich wird man sein ganzes Einkommen sofort für Nahrung ausgeben, wenn man hungert. Hat man genug Geld ,um alle dringenden Bedürfnisse zu stillen, wird man den Rest vielleicht für Bücher oder Unterhaltung ausgeben. Sind diese Wünsche auch erfüllt, wird man sich vielleicht einen Rolls-Royce zulegen. Aber je höher das Einkommen, desto geringer ist die Dringlichkeit, es auszugeben. Keynes glaubte daher, dass die Menschen auch ohne den Anreiz (Zinsen) ihren Konsum aufzuschieben zum Sparen tendierten. Er dachte, dass diese Neigung zum Sparen sogar schädlich werden könne, wenn sie zur Akkumulation von Reichtum führt. Deswegen war er niedrigen oder gar negativen Zinsen gegenüber nicht abgeneigt.

Als ich mich mit Literatur aus den späten 1930ern und 1940ern befasste, machte mich die Intensität und kaum verhohlene Emotionalität in der Kritik der etablierten Ökonomen an Keynes betroffen.38 Diese Art von Hohn ist typisch für eine Debatte, wenn das orthodoxe Establishment intuitiv spürt, dass eine neue Theorie die Grundfesten des Feldes erschüttert. Die Theorie von Keynes stellt mindestens zwei sehr große Provokationen dar: Erstens bedeutet sein Postulat einer natürlichen Tendenz zum Sparen, dass Geld selbst einem abnehmenden Grenznutzen unterliegt – je mehr ich davon habe, desto weniger nützt mir jeder zusätzliche Dollar.39 Das scheint mir einleuchtend, aber es ist anscheinend nicht so offensichtlich für klassische Ökonomen. Diese sehen einen linearen Zusammenhang zwischen Geld und seinem Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft. Sie definieren das sogar so und stellen die Behauptung auf, dass Menschen danach trachten, ihren Eigennutz zu maximieren, indem sie Gewinne maximieren.

Wenn wir die lineare Gleichsetzung von Geld und Nutzen (also “dem Guten”) verwerfen, dann verwerfen wir zugleich die liebgewonnene Ideologie, dass wir das Gemeinwohl maximieren können, wenn wir das ökonomische Wachstum maximieren. Wir stellen damit auch das utilitaristische Argument vom wohlstandsmaximierenden Kapitalismus in Abrede und öffnen ein Tor für Ideen, die statt dessen auf die gerechte Verteilung des Reichtums setzen. Wenn das Geld einem abnehmenden Grenznutzen unterliegt, dann ist mathematisch gesehen die optimale Reichtumsverteilung: so gerecht als möglich. Indem es eine Rechtfertigung für die Umverteilung von Reichtum weg von den Wohlhabenden liefert, ist das Keynesianische Gedankengut naturgemäß ein Gräuel für die Ideologen der Reichen.

Aber Keynes´ Standpunkt der Liquiditätspräferenz bringt eine noch größere Herausforderung mit sich: Sehen wir uns noch einmal die gegenteilige Sichtweise an, wie sie von den klassischen Ökonomen und Anhängern der Österreichischen Schule vertreten wird, dass Menschen von Natur aus verschwenderisch sind. Wie es N. W. Senior, ein Ökonom des 19. Jh., formulierte:

“dem Genuss, den wir haben könnten, zu entsagen oder spätere anstelle von unmittelbaren Ergebnissen zu verfolgen, sind zwei der schmerzvollsten Ausübungen des menschlichen Willens.”40

Hier noch ein neueres Beispiel von einem Anhänger von Ludwig von Mises:

Es könnte kein Leihkapital geben, wenn nicht davor gespart würde, wenn man also nicht auf möglichen Konsum von vorhandenen Gütern (einem Überschuss aus der laufenden Produktion gegenüber dem laufenden Konsum) verzichtet hätte . … Es gäbe keine Zins- oder Zeitprefärenzraten. Oder die Zinsraten wären unendlich hoch, was überall außerhalb des Garten Eden einer rein animalischen Existenz gleichkäme. Menschen würden ein Dasein in primitiver Subsistenz fristen und könnten den Anforderungen mit nichts anderem als den bloßen Händen begegnen, einzig vom Verlangen nach augenblicklicher Befriedigung getrieben.41

Dann sind Zinsen also eine Belohnung für Sparsamkeit, für Selbstbeschränkung. In diesem Denken finden wir den Widerhall mancher der fundamentalen verborgenen Ideologien, die unserer Zivilisation zugrunde liegen; zum Beispiel, dass unser spiritueller und materieller Fortschritt im Kampf gegen die Natur besteht: Wir müssen gegen die Naturgewalten außen und gegen Verlangen, Lust und die animalischen Triebe innen siegen. Enthaltsamkeit wurde zu einer hohen Tugend. Ohne sie, so die Ideologie, wären wir um nichts besser als die Tiere. Wir wären nicht in den menschlichen Rang aufgestiegen, in einen Status, der außerhalb der Natur liegt und ihr überlegen ist. Karl Marx schrieb daher:

Der Geldkultus hat seinen Asketismus, seine Entsagung, seine Selbstaufopferung – die Sparsamkeit und Frugalität, das Verachten der weltlichen, zeitlichen und vergänglichen Genüsse; das Nachjagen nach dem ewigen Schatz. Daher der Zusammenhang des englischen Puritanismus oder auch des holländischen Protestantismus mit dem Geldmachen.42

Diese Mentalität durchdringt unsere Kultur. Du musst die Befriedigung aufschieben. Du musst dein Verlangen mit dem Gedanken an spätere Belohnung zügeln. Schmerzen jetzt sind zukünftiger Gewinn. Mach deine Hausaufgaben für die Note. Gehe arbeiten für das Gehalt. Halte dich fit für die Gesundheit. Mache eine Diät, damit du dünn wirst. Widme dein Leben einer einträglichen Sache, auch wenn es nicht deine Leidenschaft ist, damit du einmal eine gute Pension bekommst. Bei all diesen Dingen wenden wir ein System aus Drohungen und Versprechungen an, die unsere Faulheit, unsere Selbstsucht überwinden sollen. Zinsen werden zur Motivation im Kampf gegen das Selbst, die Überwindung unseres sträflichen Leichtsinns.

Aber ist das wirklich die menschliche Natur? Liegt es wirklich in unserer Natur zu konsumieren, mehr zu konsumieren als wir brauchen, ohne an andere Menschen, andere Lebewesen oder unsere eigene Zukunft zu denken? Nein. Die alten Griechen verstanden es richtig, obwohl sie die menschliche Natur im Allgemeinen nicht allzu freundlich bewerteten. Wie Aristophanes sagte, stellt sich bei allen Dingen – Brot, Wein, Sex, und so weiter – eine Sattheit ein. Unsere Bedürfnisse sind begrenzt, und wenn wir sie befriedigt haben, dann wenden wir uns anderen Dingen zu und tendieren zur Großzügigkeit. Aber für Geld kennen wir kein Sättigungsgefühl. Es ist nicht der Hang zum Konsum, der keine Grenzen kennt, im Gegenteil, grenzenloses Verlangen entsteht erst durch Geld. Nach ihrer Übersättigung an Konsumgütern begehren Menschen das Geld selbst, nicht das, was sie damit kaufen können. Und dieses Verlangen hat keine Grenzen. Neoklassische Ökonomen (und die Österreichische Schule) sehen das verkehrt, während Gesell und Keynes ganz richtig lagen, als sie versuchten, dem Geld zumindest einige seiner Merkmale zu nehmen, die das Verlangen danach unendlich groß machen. Keynes war sich bewusst – er sagte das auch explizit -, dass eine Grundannahme in seiner Theorie die Dominanz der Liquiditätspräferenz über die Zeitpräferenz war: ein “psychologisches Gesetz”, wie er es nannte.

Natürlich, für manche Menschen, Ess-Süchtige, Sex-Süchtige, Alkohol-Süchtige – gibt es wirklich keine Sättigung in den Dingen, die Aristophanes aufzählte. Beweist das aber, dass Menschen eben gierig sind? Das Beispiel Sucht zeigt gut, wo das Problem beim Geld liegt: Sucht entsteht, wenn wir etwas als Ersatz für etwas anderes verwenden, das wir wirklich wollen oder brauchen – zum Beispiel Nahrung als Ersatz für Nähe, Sex als Ersatz für emotionale Intimität und so weiter. Geld als universelles Ziel wird ein Ersatz für viele andere Dinge, auch jene, die die Geldökonomie zerstört hat: Gemeinschaft, Verbundenheit zum Ort, zur Natur, Muße und vieles mehr.

“Liquidität” des Geldes bedeutet, dass man es bequem gegen alles andere eintauschen kann, was man haben möchte. In einer Geldökonomie können wir jede Ware gegen eine andere tauschen, nur nicht direkt, sondern über das Tauschmedium (Geld). Warum sollten wir dann aber Geld gegenüber anderen Waren bevorzugen? Außer inFällen, in denen wir ein Bedürfnis haben, das rasch gedeckt werden muss (und diese rechtfertigen ja auch, dass man einen maßvollen Betrag des Tauschmediums bei der Hand hat), liegt der einzige Grund für die Bevorzugung von Geld darin, dass es bei der Lagerung nicht an Wert verliert. Die Unvergänglichkeit des Geldes macht es nicht nur zu einem universellen Mittel, sondern auch zu einem universellen Zweck. Schaffen wir ein Geld, das nicht von Dauer ist, dann wahren wir seine Funktion als Mittel, aber nicht jene als Zweck. Und dadurch ermöglichen wir eine Form von Reichtum, die sich radikal von allem unterscheidet, das wir bisher gekannt haben.

12.5 Mehr für mich ist mehr für dich

Es war und ist auch heute nicht unehrenhaft, sich einen Regenschirm, ein Buch zu borgen; ja, selbst wenn man diese Gegenstände zurückzugeben vergaß, so wurde es gar so übel nicht genommen (…). Eine Buchführung über verborgte Gegenstände bestand in keiner Familie. (…) Mit dem Freigeld ist das Geld auf die Rangstufe der Regenschirme herabgesetzt worden, und die Bekannten und Freunde helfen sich jetzt gegenseitig aus, als ob es sich mit dem Gelde um eine ganz gewöhnliche Sache handele. Irgendwie größere Geldvorräte hat niemand und kann auch niemand haben, da ja das Geld unter Zwangsumlauf steht. Aber gerade weil man keine Rücklagen haben kann, braucht man auch keine. Das Geld läuft ja jetzt mit größter Regelmäßigkeit um. Der Kreislauf ist geschlossen.

(Silvio Gesell)

Die Äquivalente für das “universelle Mittel” und den “universellen Zweck” sind in der modernen Ökonomie das “Tauschmittel” und das “Wertaufbewahrungsmittel”. Man kann die Wirkung von Negativzinsen auch so verstehen, dass sie diese beiden Funktionen entkoppeln. Das ist eine tiefgreifende Veränderung. Für die meisten Ökonomen gehören die Funktion als Tauschmittel und jene als Wertaufbewahrungsmittel zu den definierenden Grundfunktionen von Geld. Aber wenn beide im selben Objekt zusammenkommen, verursacht das Probleme, denn ein Tauschmittel muss fließen, um nützlich zu sein, während ein Wertaufbewahrungsmittel aus der Zirkulation herausgenommen (aufbewahrt) wird. Dieser Widerspruch sorgte jahrhundertelang für eine Spannung zwischen dem Wohlstand eines Individuums und dem Wohlstand einer Gesellschaft.

Die Spannung zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Reichtum ist Ausdruck der in unserer Zeit so dominant gewordenen Vorstellung vom atomistischen Selbst. Ein Geldsystem, das diese Spannung löst, verspricht daher tiefgreifende Auswirkungen auf unser Bewusstsein. Im ersten Kapitel schrieb ich:

Während Geld heute auf dem Prinzip `mehr für mich ist weniger für dich´ beruht, ist in einer Schenkökonomie mehr für dich auch mehr für mich, weil jene, die haben, denen geben, die brauchen. Geschenke bestärken die mystische Erkenntnis, Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst, das dennoch nicht von einem selbst getrennt ist. Die Maxime vom rationalen Selbstinteresse ist dabei, sich zu verändern, weil sich das Selbst ausgedehnt hat, um einen Teil des Anderen mit einzuschließen.

Können wir dem Geld dieselben Eigenschaften verleihen wie dem Geschenk?

In einer Wirtschaft, die auf Freigeld basiert, bedeutet Reichtum etwas ganz anderes als heute. Er nimmt einen sehr ähnlichen Charakter an wie in primitiven geschenkbasierten Gesellschaften. In Jäger-Sammler Gesellschaften, die meist nomadisch organisiert waren, bedeuteten Besitztümer ganz wörtlich eine Last. Die “Haltekosten”, die heute alles außer Geld hat, waren damals ganz wörtlich zu verstehen. In sesshaften agrarischen Gesellschaften verschafften Besitztümer wie Vieh oder Getreidevorräte auch keine so große Sicherheit wie das Eingebettetsein in ein reiches Netzwerk des Gebens und Empfangens im Rahmen der sozialen Beziehungen. Getreide kann verderben und Vieh kann sterben, aber wer der Gemeinschaft großzügig von seinem/ihrem Reichtum gegeben hatte, brauchte kaum etwas zu fürchten.

Freigeld bringt diese Denkweise der Jäger und Sammler zurück. Im heutigen System ist es viel besser, wenn man tausend Dollar hat, als wenn einem zehn Menschen hundert Dollar schulden. In einem Negativzinssystem ist das Gegenteil der Fall – außer man braucht das Geld, um es sofort auszugeben. Da Geld mit der Zeit an Wert verliert, borge ich dir gerne mein Geld, wenn ich es gerade nicht brauche, so als hätte ich mehr Brot als ich gerade essen kann. Wenn ich in der Zukunft welches brauche, dann stelle ich die Schulden fällig oder mache selber neue bei jemandem in meinem Netzwerk, der gerade mehr Geld hat, als er unmittelbar braucht.

Wenn früher ein primitiver Jäger ein großes Tier erlegt hatte, verteilte er den Großteil der Beute nach Kriterien wie Verwandtschaftsgrad, persönlicher Zuneigung und Bedarf. So wie bei einer Schwundwährung war es viel besser, wenn einem viele Menschen “etwas schuldeten”, als auf einem großen Haufen verfaulenden Fleisches zu sitzen – und selbst wenn man es getrocknet hätte, musste das Dörrfleisch transportiert und gelagert werden. Aber warum sollte man das auch wollen, wenn die Gemeinschaft genauso großzügig zu einem war, wie man selbst zu ihr? Das Teilen garantierte Sicherheit. Der Jagderfolg deines Nachbarn war auch dein Erfolg. Wenn man unerwartet zu großem Reichtum gelangte, dann richtete man ein großes Fest aus. Wie es ein Stammesmitglied der Pirahã erklärte, als er über die Lagerung von Nahrung gefragt wurde:

“Ich lagere mein Essen im Bauch meines Bruders.” 43

Auch die !Kung haben ein ähnliches Verständnis von Reichtum, wie es in diesem Gespräch zwischen dem Anthropologen Richard Lee und einem !Kung namens !Xoma deutlich wird:

Ich fragte !Xoma: “Was macht ein //kaiha [reicher Mann], wenn er viele //kai [Perlen und andere Wertgegenstände] in seiner Hütte hat?” – “//Kai zu besitzen macht dich nicht zu einem //kaiha,” antwortete !Xoma. “Wir nennen jemand //kaiha, wenn er viele Güter wandern lässt.” Was !Xoma zu sagen schien war, dass es nicht die Anzahl der Güter war, die Reichtum ausmacht, sondern die Zahl der Freunde. Ein reicher Mensch wurde an der Häufigkeit seiner oder ihrer Transaktionen und nicht am Inventar der Güter, die er oder sie auf Lager hatte, gemessen.44

Reichtum in einem Freigeldsystem entwickelt sich zu etwas, das den Modellen im Pazifischen Nordwesten oder in Melanesien gleicht, wo ein Anführer

wie ein Verschiebebahnhof für Güter funktioniert, die reziprok zwischen seinen eigenen Leuten und anderen ähnlichen Gruppen der Gesellschaft hin und her fließen. 45

Status stand nicht im Zusammenhang mit dem Anhäufen von Geld oder Besitztümern, sondern mit Großzügigkeit. Können Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der das größte Ansehen, die Macht und die Führerschaft bei jenen liegen, die die größte Neigung und Fähigkeit haben, zu geben?

So war das in archaischen Gesellschaften. Status beruhte auf Freigiebigkeit, und Freigiebigkeit erzeugte Dankbarkeit und ein Gefühl der Verpflichtung. Um ein Herr oder König zu sein, musste man luxuriöse Feste geben und kostspielige Geschenke an Gleichstehende und Untergebene verteilen. Ein Beispiel dafür findet sich in den Nibelungen, der großen germanischen Erzählung des Hochmittelalters, die sich auf Quellenmaterial aus viel früheren Zeiten stützt. Als Kriemhild, die Witwe des großen Helden Siegfried beginnt, den Schatz, den sie von ihm geerbt hat, großzügig zu verschenken, fühlt sich der König so bedroht, dass er sie ermorden und den Schatz im Rhein versenken lässt (wo er bis heute liegt!). Die Autorität des Königs basierte auf Geschenken, und diese Autorität wurde unterminiert, wenn jemand anderer begann, größere Schätze zu verschenken als er selbst.

Die Kredite zu 0% Zinsen in einer Freigeldwirtschaft sind das Analog zu den Schenkungen in früheren Zeiten. Während solche Kredite dem Anschein nach das Prinzip des Geschenks verletzen, weil die wechselseitige Gabe nicht im Voraus festgelegt werden darf, sind sie doch Geschenke: Nicht das Geld wird geschenkt, sondern die Verwendung von Geld. In alten Zeiten waren die mit dem Schenken verbundenen Verpflichtungen und Erwartungen gesellschaftlich festgelegt. Dasselbe ist hier der Fall: Die Verpflichtungen und Erwartungen werden gesellschaftlich in Form von Verträgen, Übereinkünften oder Gesetzen festgelegt. Die gemeinsame grundlegende Dynamik ist und bleibt: Wer mehr hat, gibt es anderen. So einfach ist das, es ist ein Ausdruck der angeborenen Großzügigkeit des Menschen, die ich im ersten Kapitel beschrieben habe. Es braucht keine wundersame Veränderung der menschlichen Natur, sondern einzig ein Geldsystem, das diese Großzügigkeit fördert und nicht behindert. Wie ich in Die Renaissance der Menschheit beschrieb:

Während Sicherheit in einem zinsbasierten System aus der Anhäufung von Geld resultiert, kommt sie in einem Schwundsystem von produktiven Kanälen, durch die man es dirigiert. Man wird also eher ein Knotenpunkt für den Wohlstandsfluss als ein Akkumulationspunkt. Mit anderen Worten legt es den Fokus auf Beziehungen, nicht auf das Haben. Metaphorisch, und vielleicht mehr als das, harmoniert das Schwundsystem mit einem neuen Selbstgefühl, das nicht durch immer mehr der Welt innerhalb der Grenzen von mir und mein bestätigt wird, sondern durch die Entwicklung und Vertiefung von Beziehungen mit anderen. Es ermutigt zu Gegenseitigkeit, Teilen und zügiger Zirkulation von Wohlstand.

Manchmal fragen Menschen, ob eine Negativzinswährung nicht, ähnlich wie Inflation, zu noch mehr Konsum anregen würde. In ökonomischen Begriffen wäre das nur der Fall, wenn der Demurrage-Satz zu hoch wäre und dazu führte, dass man lieber Güter als Geld zur Wertaufbewahrung nützte.46 Beide Möglichkeiten sollten gleichwertig sein. Aber sehen wir uns die Sache noch einmal genauer an. Wenn ich eine Währung der Fülle beschreibe, protestieren die Leute: “Aber wir leben nun einmal in einer Welt der Knappheit. Natürliche Rohstoffe sind begrenzt, und wir haben sie fast alle aufgebraucht. Das Problem ist, dass wir sie so behandelt haben, als wären sie unbegrenzt.” Also würde man meinen, dass eine Geisteshaltung und eine Währung der Fülle das Letzte sei, was wir brauchen.

Um diesen Einwand zu beantworten, prüfen wir erst, ob unsere heutige Währung der Knappheit eigentlich den Verbrauch von knappen Ressourcen eingeschränkt hat. Hat sie nicht. Die Knappheit des Geldes führte noch stärker dazu, dass man versuchte, die Ressourcen zu Geld zu machen. Es ist die Geisteshaltung von Knappheit, nicht von Fülle, die zur Erschöpfung unserer natürlichen Commons geführt hat. Die natürliche Antwort auf eine vermeintliche Ressourcenknappheit sind Wettbewerb und das Anhäufen von mehr, als man braucht. Der obszöne Überkonsum und die Verschwendung in unsere Gesellschaft entstehen aus unserer Armut: aus dem verminderten Sein, das eine Existenz als getrenntes und eigenständiges Selbst erleidet, aus der Knappheit von Geld in einem zinsbasierten System, aus der Armut an Beziehungen, weil unsere Verbindungen zur Gemeinschaft und zur Natur gekappt wurden, aus dem erbarmungslosen Druck, etwas zu tun, irgendetwas, nur um sich das Leben leisten zu können. Im Gegensatz dazu sind Großzügigkeit und das Bedürfnis, zu teilen – mit anderen Menschen und darüber hinaus mit der Welt -, die natürliche Reaktion auf eine Umgebung der Fülle. Was treibt uns dazu, die Natur so verzweifelt und hektisch zu Waren zu machen, die nicht einmal reale Bedürfnisse befriedigen, wenn nicht unsere Angst?


Denken Sie darüber nach. Ist es eine Geisteshaltung von Knappheit oder von Fülle, wenn jemand 50 Paar Schuhe kauft? Ist das eine sichere oder unsichere Persönlichkeit, die ein drittes Sportauto und ein Haus mit 1000m² kauft? Woher kommt dieser Drang, zu besitzen, zu beherrschen, zu kontrollieren? Er kommt von einem einsamen, armseligen Ich in einer feindlichen, herzlosen Welt.


Freigeld verkörpert die spirituellen Lehren von Fülle, wechselseitiger Verbundenheit und Vergänglichkeit. Diese Lehren verweisen auf eine Wahrheit, die im Widerspruch zu der Welt steht, die wir mit unseren Ansichten geschaffen haben; vor allem jenen Ansichten , auf denen die Geschichte vom Geld beruht. Es ist Zeit, dass wir uns an eine neue Welt gewöhnen, in der wir nicht mehr versuchen, reich zu werden, indem wir aufbewahren, horten und haben. Es ist eine Welt in der wir reich sind, wenn wir geben. Die esoterischen „prosperity programming“ – Lehrer, die ich in Kapitel 6 kritisierte, verkünden eigentlich eine wichtige Wahrheit. Wir müssen tatsächlich eine Geisteshaltung der Fülle einnehmen und eine Welt schaffen, in der sie sich manifestiert.


Mein lieber Leser, denken Sie darüber nach: Sind das wirklich Sie, wenn Sie sagen: „Ich werde dir Geld borgen – aber nur, wenn du mir noch mehr dafür zurückzahlst“? Wenn wir Geld zum Überleben brauchen, ist das dann nicht eine Formel für Sklaverei? Bezeichnenderweise war einer der Gründe für den Schuldenerlass, für den Solon berühmt wurde, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung zu Schuldsklaven wurde. Heute fühlen sich Leute versklavt durch die Studienkredite, Hausbesitzer durch ihre Hypotheken und Länder der Dritten Welt durch ihre Schulden im Ausland. Zins ist Sklaverei. Und weil Sklaverei den Sklavenhalter genauso erniedrigt wie den Sklaven, wollen wir in unseren Herzen weder das eine noch das andere.


Wenn Sie jemandem Geld leihen, sind das wirklich Sie, wenn Sie ihm diese Schuld für immer und ewig vorhalten? Darauf laufen Zinsen hinaus: Sie sind ein Druckmittel, um Geld zurückzuzahlen. Sie sind die Androhung: „Wenn du mir das nicht zurückzahlst, wird deine Schuld immer größer und größer.“ Ein Kredit mit null Prozent oder Negativ Zinsen drückt dagegen eine gewisse Freiheit aus. Ihm fehlt diese Drohung mit einer lebenslangen Schuldsklaverei. Ich finde, dass negative Zinsen recht natürlich sind. Wenn ich vielleicht irgendwann sagen: „Vergessen wir es – ich will dir das nicht für immer vorhalten.“ Ich will nicht an alten Dingen, alten Schulden festhalten. Ein Negativzins-Geldsystem bestärkt diese heilsame Neigung, die uns allen angeboren ist: loszulassen, die Vergangenheit sein zu lassen und nach vorn zu schauen.