Kapitel 10: Das Gesetz der Wiederkehr

 

Der Sozialismus scheiterte, weil er der ökonomischen Wahrheit nicht gewachsen war; der Kapitalismus könnte scheitern, weil er sich der ökologischen Wahrheit nicht stellt.

(Lester Brown)

Eins ist gewiss: Die lineare Umwandlung von Ressourcen in Abfall ist auf einem begrenzten Planeten nicht tragbar. Aber noch weniger ist es das exponentielle Wachstum von Bevölkerung, Geld oder Ressourcenverbrauch.

Das ist nicht nur untragbar, es ist auch unnatürlich. In einem Ökosystem produziert kein Organismus Abfälle, die nicht von anderen Organismen genutzt werden können – es gilt daher der Grundsatz: Des einen Abfall ist des anderen Nahrung. Keine andere Spezies produziert wachsende Mengen an Stoffen wie Dioxin, polychlorierte Biphenyle und radioaktiven Müll, die für alle anderen Lebewesen giftig sind. Unsere lineare bis exponentielle Wachstumsökonomie verletzt aufs Gröbste das natürliche Gesetz der Wiederkehr, den Ressourcenkreislauf.

Eine heilige Ökonomie ist eine Erweiterung der Ökologie und gehorcht daher all deren Gesetzen, darunter auch dem Gesetz der Wiederkehr. Konkret bedeutet das, dass jede Substanz, die durch industrielle Prozesse oder andere menschliche Tätigkeit produziert wurde, entweder für eine weitere menschliche Tätigkeit benutzt oder letztendlich in das Ökosystem zurückgespeist wird, in einer Art und Weise, die sicherstellt, dass sie von anderen Lebewesen verarbeitet werden kann.1 Also wird es so etwas wie Industrieabfälle nicht geben. Alles kehrt zurück an seinen Ursprung. Wie sonst auch in der Natur wird unser Abfall Nahrung für andere sein.

Warum nenne ich eine solche Wirtschaft “heilig” und nicht natürlich oder ökologisch? Wegen der Heiligkeit der Geschenek. Das Gesetz der Wiederkehr zu befolgen heißt, den Geist des Schenkens zu ehren, weil wir empfangen, was uns gegeben wurde, und wir davon wiederum anderen schenken. Geschenke sind da, um weitergegeben zu werden. Entweder behalten wir sie für eine Weile, bevor wir sie weiter kreisen lassen, oder wir gebrauchen sie, verdauen sie, verinnerlichen sie, und geben sie in veränderter Form weiter. Dass dies eine heilige Verantwortung ist, erscheint sowohl von einem gottgläubigen als auch einem atheistischen Standpunkt aus sinnfällig.

Aus der Perspektive des Glaubenden ist es die Quelle, die uns diese Welt geschenkt hat. Wie ich mir von Evangelikalen sagen ließ, wäre es ein schwerer Irrtum zu glauben, dass es in Ordnung wäre, mit der Natur auf eine zerstörerische Weise umzugehen, weil es immerhin Gott war, der sie uns anvertraut hat. Ein Geschenk zu verschwenden, es schlecht zu nutzen, heißt das Geschenk abzuwerten und den Schenkenden zu beleidigen. Wenn Sie jemandem etwas schenken, und er wirft es vor Ihren Augen in den Müll, werdebn Sie vielleicht beleidigt oder enttäuscht sein; bestimmt werden Sie aufhören, diesem Menschen Geschenke zu machen. Ich denke, dass jeder, der wirklich an Gott glaubt, es nicht wagen würde, die Schöpfung so zu behandeln. Im Gegenteil, er würde das Leben, die Erde und alles auf ihr so verwenden, dass er daraus das Schönstmögliche macht. Das heißt, wir behandeln die Welt wie das göttliche Geschenk, das sie auch ist. Dankbar gebrauchen wir sie im Guten und geben unsererseits. Das ist der theistische Grund, warum ich eine Ökonomie, die keinen Abfall produziert, eine heilige nenne.

Aus dem atheistischen Blickwinkel ist eine Wirtschaft, die keinen Müll produziert, die ökonomische Entsprechung der engen Verbundenheit, die zwischen allen Wesen besteht. Sie ist Ausdruck der Tatsache, dass ich alles, was ich dir antue, auch mir selbst antue. In dem Maß, in dem wir das Einssein erkennen, wächst unser Wunsch, unsere Gaben weiterzuschenken, kein Leid zu verursachen, und die anderen so zu lieben, wie wir uns selbst lieben.

Auf einer pragmatischen Ebene macht diese Vision einer heiligen Ökonomie die Abschaffung der sogenannten “Externalitäten” erforderlich. Externalisierte Kosten sind Produktionskosten, die jemand anderer bezahlt. So ist etwa Gemüse aus Spanien in Deutschland billiger als lokal produzierte Nahrungsmittel, da der Preis nicht die vollen Kosten wiedergibt. Weil die Produzenten nicht für die gegenwärtigen und künftigen Kosten der Erschöpfung von Grundwasservorräten, von Pestizidvergiftungen, Bodenversalzung und anderen Folgen ihrer Anbaumethoden aufkommen müssen, sind diese Kosten nicht im Preis für einen Salatkopf enthalten. Darüber hinaus sind auch die Kosten für den LKW-Transport quer über den Kontinent hoch subventioniert. Der Preis für einen vollen Tank enthält nicht die Kosten für die Umweltverschmutzung, die er anrichtet, und auch nicht die Kosten für die Kriege, die ums Erdöl geführt werden, oder jene von Ölkatastrophen. Transportkosten beinhalten nicht die Kosten für den Bau und die Instandhaltung von Straßen. Wären alle diese Kosten im Salatkopf eingepreist, könnte man sich spanischen Salat in Deutschland kaum leisten. Dann würden wir nur ganz besondere Dinge von weit her kaufen.

Viele Branchen können heute nur arbeiten, weil ihre Kosten externalisiert sind. Zum Beispiel macht die gesetzliche Deckelung der Haftungspflicht für Ölkatastrophen und Kernschmelzen Offshore-Bohrungen und Kernenergie für die Anbieter profitabel, selbst wenn das Endergebnis für die Gesellschaft ein verheerendes ist. Es ist unmöglich, dass BP für die vollen Kosten der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko aufkommt, selbst wenn die Firmal dafür bankrott ginge. Die Gesellschaft wird die Kosten tragen, als wird auch hier der Reichtum der Allgemeinheit an die Investoren des Unternehmens verschoben.2 Im Grunde vollzieht jedes Unternehmen, das ein Risiko für katastrophale Verluste birgt, einen Transfer von Commons in die Hände Privater – von den Vielen zu den Wenigen. Diese Unternehmen laufen auf Basis einer Versicherung zum Nulltarif. Sie kriegen die Profite, wir übernehmen das Risiko. Nicht anders ist es in der Finanzindustrie, wo die größten Spieler enorme Risiken in Kauf nehmen, weil sie wissen, dass sie gerettet werden, wenn sie sich übernommen haben. Externalisierte Kosten führen dazu, dass sich wirtschaftliche Strategien rechnen, die eigentlich unökonomisch sind, wie Offshore-Bohrungen und Kernenergie.

Die Internalisierung der Externalitäten würde das Geschäftsmodell des heutigen Zeitalters (“Ich behalte das Einkommen, jemand anderes bezahlt die Kosten”) vereiteln. Ich dünge mein Feld mit Stickstoff, und die Krabbenfischer stromabwärts bezahlen für die Eutrophierung der Gewässer. Ich verbrenne Kohle, um Strom zu erzeugen, und die Gesellschaft bezahlt für die medizinischen Kosten durch Quecksilbervergiftungen und für die Umweltschäden durch sauren Regen. All diese Strategien sind Variationen über das Thema, das ich schon beschrieben habe: die Monetarisierung der Commons. Die Fähigkeit der Erde, verschiedene Arten von Abfall zu absorbieren, ist genauso ein Gemeingut wie die Reichhaltigkeit von Böden, Meeren und Gewässern. Auch die kollektive Zeit für Muße in einer Gesellschaft könnte man als Gemeingut betrachten, das aufgebraucht wird, wenn die Schweinereien einiger von allen anderen sauber gemacht werden müssen.

“Ich behalte das Einkommen, und jemand anderes zahlt für die Kosten”, spiegelt die Geisteshaltung des Selbst in Getrenntheit wider, in der Ihr Wohlergehen in keiner Verbindung zu meinem steht. Was geht es mich an, was Ihnen passiert? Wenn Sie arm oder krank oder im Gefängnis sind, was geht es mich an, solange ich mich ausreichend von gesellschaftlicher Unbill und von Umweltgiften abgrenze? Was geht es mich an, wenn der Golf von Mexiko unter einer Ölschicht erstickt? Ich kann ja umsiedeln. Was geht es mich an, dass im Pazifischen Ozean einen tausende Kilometer breiten Strudel aus Plastik treibt? Wenn wir uns als getrennt von allem empfinden, dann geht uns das alles nichts an – weil wir uns ja vor den Auswirkungen unseres Tuns in Sicherheit bringen können. Profit aus der Externalisierung von Kosten zu schlagen gehört auch zu dieser Perspektive. Aber vom Blickpunkt des Selbst in Verbundenheit, verbunden mit anderen Menschen und mit der Erde, ist Ihr Wohlergehen nicht zu trennen von meinem eigenen, weil Sie und ich nicht fundamental getrennt sind. Die Internalisierung aller Kosten ist einfach die ökonomische Form dieses Prinzips von wechselseitigem Verbundensein3: „Was ich anderen antue, das tue ich mir selbst an.”

Die Internalisierung von Kosten reflektiert auch die Sichtweise einer Kultur des Schenkens. Im Kreislauf des Schenkens ist dein Glück mein Glück, und dein Verlust ist mein Verlust, weil du entsprechend mehr oder weniger verschenken kannst. Aus dieser Weltsicht ist es eine Sache des Hausverstandes, den Schaden an der Gesellschaft oder der Natur in die Kalkulation miteinzubeziehen. Wenn ich davon abhängig bin, dass du mir Geschenke machst, dann ist es unlogisch, dass ich mich bereichere, indem ich dich ärmer mache. In einer solchen Welt ist jenes das beste Geschäftsmodell, das jeden bereichert: die Gesellschaft und den Planeten. Eine heilige Ökonomie muss diesem Prinzip eine Form geben und den Profit mit dem Wohl der Allgemeinheit in Einklang bringen.

Einige visionäre Geschäftsleute, die dieses Prinzip verstanden haben, versuchten, es durch Ideen wie das Drei-Säulen-Modell der nachhaltigen Entwicklung und die Vollkostenrechnung freiwillig umzusetzen. Die Idee ist, dass ihr Unternehmen so handeln soll, dass es nicht nur seinen eigenen Profit maximiert, sondern dass alle drei Säulen – Menschen, Umwelt und Profit – gleichermaßen berücksichtigt werden. Das Problem ist nur, dass solche Unternehmen mit anderen konkurrieren müssen, die das Gegenteil tun und ihre Kosten auf die Menschen und den Planeten auslagern. Das Drei-Säulen-Modell und die Vollkostenrechnung sind für die Evaluation der öffentliche Politik nützlich (weil sie mehr als nur ökonomische Vorteile umfassen), aber wenn es um private Unternehmen geht, sind die ersten beiden Säulen mit der dritten nicht zu vereinbaren. Wenn ich als Fischer versuche, nachhaltig zu fischen und mich gegen industrielle Fangschiffe mit ihren hunderte Meter langen Schleppnetzen durchsetzen muss, werden meine höheren Kosten verhindern, dass ich wettbewerbsfähig bin. Darum braucht es ein Mittel, um die Internalisierung der Kosten zu erzwingen und das Drei-Säulen-Modell in eine einzige Säule zu integrieren, die alle drei umfasst. Es reicht nicht, darauf zu hoffen, dass die Menschen “es kapieren”. Wir müssen ein System schaffen, in dem das Eigeninteresse mit dem Allgemeinwohl in Einklang steht.

Eine Möglichkeit, externalisierte Kosten (und externalisierten Nutzen) in die Bilanz aufzunehmen, ist der Emissionsrechtehandel oder andere handelbare Verschmutzungsbewilligungen.4 Während solche Vereinbarungen in der Praxis gemischte Resultate erzielten (die Schwefeldioxid-Deckelungen waren relativ erfolgreich, aber der CO2 Handel in der EU war ein Desaster), erlauben sie uns, theoretisch eine kollektive Übereinkunft darüber zu treffen, wie viel genug ist. Dieses “genug” ist abhängig von der Fähigkeit des Planeten oder der Bioregion, den betreffenden Stoff zu assimilieren. Für Schwefeldioxid könnten Europa und Amerika unterschiedliche Grenzwerte festlegen, um den Sauren Regen zu kontrollieren. Das Ruhrgebiet könnte seine eigenen Grenzwerte für Ozon oder Stickoxide haben, und für den ganzen Planeten könnte es einen Grenzwert für CO2 oder FCKW geben. Mit Deckelungen lässt sich Jevon´s Paradox umgehen, das besagt, dass Effizienzsteigerungen nicht notwendigerweise zu weniger, sondern oft sogar zu mehr Konsum führen, weil die Preise sinken, und Kapital für noch mehr Produktion frei wird.5

Es werden heftige Kontroversen um die heutigen Vorschläge für den Emissionsrechtehandel geführt, und im Großen und Ganzen stimme ich den Kritikern zu. Ein wirklich effektiver Plan für den Handel von Emissionszertifikaten wäre ein Auktionssystem ohne Kompensationen, ohne Gratis-Zertifikate, ohne Besitzstandsklauseln und mit strikten Sanktionen für Länder, die die Ziele nicht erreichen. Dennoch bleiben Probleme wie Preisschwankungen, das Handeln mit spekulativen Derivaten und Korruption. Die Durchsetzung ist ein besonders kritisches Problem, weil der Emissionsrechtehandel Herstellern einen großen Vorteil verschafft, die an Standorten mit lascher Durchsetzung produzieren, und das könnte sogar in Summe zu mehr Verschmutzung führen als das heutige regulatorische System.6 Ein weiteres Problem ist, dass in einem System, in dem Emissionsrechte gehandelt werden, der individuelle Verzicht Ressourcen oder Verschmutzungsrechte freisetzt, die von jemand anderem genutzt werden können, was ein Gefühl von persönlicher Machtlosigkeit erzeugt.

Die Probleme mit dem Emissionsrechtehandel lassen einen anderen Ansatz sinnvoll erscheinen: direkte Steuern auf Verschmutzung, so wie die von Paul Hawken vorgeschlagenen CO2-Abgaben. Der Import fossiler Brennstoffe könnte besteuert und die Einkünfte daraus der Öffentlichkeit rückerstattet werden. Das ist ein anderer Weg, um die Internalisierung von Kosten zu erzwingen, und er wäre speziell in solchen Fällen geeignet, wo die sozialen und umweltbezogenen Kosten leicht zu quantifizieren und die Schäden leicht zu beheben sind. Wie beim Emissionsrechtehandel ist auch hier die internationale Durchsetzung ein großes Problem, weil die Produktion in jenen Ländern profitbringender wäre, die sich weigern, solche Steuern zu verlangen, oder sie ineffizient kassieren. Auch mag eine häufige Anpassung der Abgaben erforderlich sein, um die erwünschten Grenzwerte einzuhalten.

Jene Leser, die vor dem Vorschlag einer weiteren Steuer zurückschrecken, mögen bedenken, dass beide von mir beschriebenen Mechanismen, Emissionsrechtehandel und Ökosteuern, eigentlich keine zusätzlichen Kosten für die Gesellschaft sind. Auf jeden Fall wird jemand die Kosten für die Umweltzerstörung tragen müssen. Im jetzigen System sind dieser “jemand” entweder unschuldige Dritte oder die künftigen Generationen. Diese Vorschläge verlagern die Kosten zu denen, die sie verursachen und davon profitieren.

Wie auch immer das Ziel erreicht wird, wenn die Kosten der Verschmutzung internalisiert sind, deckt sich die beste unternehmerische Entscheidung mit der besten Entscheidung für die Umwelt. Angenommen, Sie wären Erfinder und hätten eine gute Idee, wie eine Fabrik 90% ihrer Emissionen reduzieren könnte, ohne an Produktivität zu verlieren, dann bestünde heute für diese Fabrik kein Anreiz, Ihre Idee umzusetzen, weil die Implementierung teurer als eine weitere Verschmutzung ist. Würden aber die Kosten für die Verschmutzung internalisiert, so wäre Ihre Erfindung höchst gefragt. Eine ganze Reihe neuer wirtschaftlicher Anreize entsteht aus der Internalisierung von Kosten. Unsere guten Absichten, Verschmutzung zu reduzieren, selbst wenn es sich ökonomisch nicht rentiert, müssten nicht länger gegen die Zwänge des Geldes ankämpfen.

Während sowohl der Emissionsrechtehandel als auch Ökosteuern ihre Rolle bei der Internalisierung sozialer und ökologischer Kosten spielen, könnten wir sie auch in die Struktur des Geldes selbst integrieren. Es wäre eine bewusst gewählte Form von Geld, die unsere Ehrfurcht vor dem Planeten und unser wachsendes Verständnis für die Rolle und die Bestimmung der Menschheit auf Erden verkörpert. Es vereint die Internalisierung der Kosten mit der Wiedergutmachung des großen Unrechts, das das Eigentum darstellt, wie in Kapitel 4 beschrieben. Es gibt den Menschen die Commons zurück und lässt dennoch gleichzeitig dem Unternehmergeist freies Spiel. Es implementiert das Prinzip aus Kapitel 9: Geld wird heilig, indem es von Werten gedeckt ist, die uns heilig geworden sind. Darunter befinden sich exakt dieselben Werte, auf deren Bewahren auch Ökosteuern und Ähnliches abzielen. Die Details von Emissionsrechtehandel oder eine speziellen Währung mögen einen technokratischen Beigeschmack haben, aber der zugrundeliegende Impuls, den ich im nächsten Kapitel konkretisieren werde, ist folgender: Das Geld soll mit dem, was uns heilig ist, in Einklang gebracht werden.

Sei es nun mithilfe herkömmlicher Steuern, oder über Emissionsrechtehandel, oder durch ein neues Geldsystem, wir sind jedenfalls dabei, in eine grundsätzlich andere Beziehung zur Erde zu treten.In der Zeit des Aufstiegs, der im Zeichen Geschichte vom Wachstum des menschlichen Einflussbereichs und der Eroberung der Wildnis stand, als sich die Menschheit gleichsam in ihrer Kindheitsphase befand, und die Welt unbegrenzt Raum für unser Wachstum zu bieten schien, da waren kollektive Übereinkünfte darüber, wie viel Fisch zu fangen sei, wie viele Bäume zu fällen, wie viel Erz abzubauen, oder wie viel von der Absorptionsfähigkeit der Atmosphäre für Abgase zu verbrauchen sei, unnötig. Heute ändert sich unsere Beziehung zum Rest der Natur fundamental, weil wir die Grenzen der Umwelt nicht ignorieren können. Die Fischgründe, die Wälder, das saubere Wasser und die reine Luft sind offensichtlich alle der Erschöpfung nahe. Wir haben die Macht, die Erde zu zerstören oder ihr zumindest schwerwiegenden Schaden zuzufügen. Wir können sie verletzen, ebenso wie Liebende einander verletzen können. In diesem Sinn ist es nicht mehr angebracht, sie nur als Mutter Erde zu betrachten. Ein Kind berücksichtigt bei seinen Wünschen die Grenzen seiner Mutter nicht. Unter Liebenden ist das anders. Darum sehe ich eine Zukunft, in der wir lokale, regionale und globale Deckelungen für den Ressourcenverbrauch beschließen. Die Fischbestände, der Grundwasserverbrauch, der CO2-Ausstoß, der Holzverbrauch, der Schwund der Humusschicht und vieles mehr wird aufmerksam überwacht und auf ein erträgliches Ausmaß reduziert werden. Diese Ressourcen (sauberes Wasser, reine Luft, Mineralien, Lebewesen etc.) werden uns heilig sein, so heilig, dass wir sie wohl kaum mehr “Ressourcen” nennen werden. Schließlich bezeichnen wir auch nicht unsere eigenen lebenswichtigen Organe als Ressourcen oder kommen nicht im Traum auf die Idee, sie zu zerstören.

Eigentlich machen wir aber genau das: Wir zerstören unsere eigenen lebenswichtigen Organe, und zwar für Zwecke analog zu jenen, um derentwillen wir die lebenswichtigen Organe der Erde erschöpfen. Das würde man vom Standpunkt des Selbst in Verbundenheit auch so sehen, weil wir ja das, was wir der Erde antun, auch uns selbst antun. Die Parallelen reichen weit, also beschränke ich mich um der Kürze willen auf eine einzige: die Parallele zwischen unserem Verbrauch der in der Erde lagernden fossilen Brennstoffe und der Erschöpfung der Nebennieren durch chemische und psychologische Aufputschmittel. Dem Denken in der traditionellen chinesischen Medizin zufolge sind die Nebennieren Teil des Organsystems der Nieren. Dieses dient als Speicher für das ursprüngliche Qi, die Lebenskraft, und auch als Pforte für den stetigen Fluss des erworbenen Qi. Wenn wir im Einklang mit unserem Lebenszweck sind, öffnen sich diese Pforten zur Lebenskraft weit und versorgen uns konstant mit Energie. Aber wenn wir diese Balance verlieren, müssen wir zunehmend brutale Mittel (Kaffee, motivationale Techniken, Drohungen) anwenden, um die Lebenskraft durch die Nebennieren zu pressen. Ähnlich wurden die Methoden, mit denen wir uns Zugang zu fossilen Brennstoffen verschaffen, zunehmend gewalttätig: durch Fracking, durch das Abtragen von ganzen Bergspitzen, die Ausbeutung von Ölsand und so weiter. Und wir verwenden diese Brennstoffe für unwichtige oder zerstörerische Zwecke, die eindeutig nicht im Einklang mit dem Zweck sind, den die menschliche Spezies auf Erden erfüllen soll. Das Persönliche spiegelt sich im Planetarischen. Der Zusammenhang ist mehr als nur eine Analogie: Die Art von Arbeit, die zu tun wir uns mit Kaffee und externer Motivation (also Geld) zwingen, ist genau jene Art von Arbeit, die zur Plünderung des Planeten beiträgt. Eigentlich möchten wir das unserem Körper nicht antun. Eigentlich möchten wir das unserer Welt nicht antun.

Wir möchten in unserer Beziehung zur Erde Gebende werden, nicht nur Nehmende. Das vor Augen, möchte ich einen weiteren Aspekt des Gesetzes der Wiederkehr und der kosmischen Einheit von Geben und Empfangen aufgreifen. Eine offenkundige Ausnahme vom Gesetz der Wiederkehr in der Natur scheint es zu geben; etwas, das Ökosysteme nicht wiederverwerten, etwas, das immer wieder neu kommt und immer als Abfall geht. Dieses Etwas ist Energie. Als Sonnenstrahlung wird sie von den Pflanzen assimiliert und entlang der Nahrungskette von einem ins andere überführt, unumkehrbar ihrem Endzustand, der Abwärme, entgegen. Früher oder später wird alle elektromagnetische Strahlung von der Sonne mit niedriger Entropie wieder von der Erde als Hitze mit hoher Entropie abgestrahlt.7

Es überrascht mich nicht, dass die Menschen früher die Sonne verehrten. Nur sie schenkt uns ohne Erwartungen, ja sogar ohne die Möglichkeit einer Gegenleistung. Die Sonne ist die Großzügigkeit schlechthin. Sie versorgt alles Leben mit Energie, und in Form von fossilen Brennstoffen, Solar-, Wind- und hydroelektrischer Energie versorgt sie auch die Technosphäre. Staunend angesichts dieser praktisch unbegrenzten Quelle freier Energie kann ich ahnen, welche blanke, fast kindliche Dankbarkeit die antiken Sonnenverehrer empfunden haben mochten. Aber die Geschichte geht noch weiter. Es gibt eine spirituelle Tradition, nach der auch wir der Sonne etwas zurückgeben. Die Sonne scheint demnach sogar nur aufgrund unserer Dankbarkeit weiter.8

Sonnenrituale wurden früher nicht nur abgehalten, um der Sonne zu danken, sondern um sie weiter scheinen zu lassen. Sonnenenergie ist das Licht irdischer Liebe, das auf uns zurückfällt. Auch hier wirkt der Kreislauf des Geschenks. Wir sind nicht einmal von der Sonne getrennt. Vielleicht fühlen wir deshalb eine Sonne in uns scheinen, die auf alle anderen mit ihrer Wärme und dem Licht der Großzügigkeit ausstrahlt.

1 Das bedeutet, dass bestimmte Stoffe auch wenn sie biologisch abbaubar sind das Gesetz verletzen, wenn wir zu viel davon produzieren.

2 Und selbst wenn das Unternehmen bankrott geht und alle jetzigen Aktien- und Anleiheinhaber ihre Anteile verlieren, haben frühere Investoren bereits profitiert.

3 Anm. d. Ü.: engl.: interbeingness. Der Begriff „Interbeing“ wurde von Thích Nhất Hạnh geprägt und bezieht sich auf die Allverwobenheit sämtlicher Phänomene, das Eingebettetsein aller Dinge in ein unendlich komplexes Netz von Beziehungen. Alles existiert nur im Rahmen solcher Beziehungen, alles unterliegt vielfachen Bedingtheiten. (Zitiert aus: Wikipedia zu Thích Nhất Hạnh, November 2012),

4 In solchen Systemen wird ein Grenzwert für Gesamtemissionen beschlossen, und die Verschmutzungsrechte werden unter Staaten oder Unternehmen aufgeteilt. Verschmutzungsrechte können gekauft und verkauft werden, sodass eine Fabrik, wenn sie ihre Emissionen verringert, ihre ungenutzten Anteile weiterverkaufen kann.

5 Wenn beispielsweise durch die Einführung von Energiesparlampen die Kosten für Beleuchtung sinken, reagieren manche Einrichtungen darauf, dass sie mehr Außenbeleuchtung verwenden. Wenn Speicherplatz billiger wird, schreiben Entwickler Programme, die mehr Speicherplatz benötigen. Wenn eine beliebige Ressource effizienter genutzt werden kann, sinkt die Nachfrage und damit der Preis, wodurch die Nachfrage wieder steigt.

6 Verursacher von Verschmutzungen in Staaten mit lascher Durchsetzung könnten Zertifikate an Abgasverursacher in Ländern mit strengeren Standards verkaufen, sodass diese zu niedrigeren Kosten und erstere über den Gesamtgrenzwert hinaus Verschmutzung verursachen könnten.

7 “Später” könnten auch hunderte Millionen von Jahren sein, wenn wir zum Beispiel Kohle verbrennen.

8 Interessanterweise hat sich die Strahlung der Sonne in der Zeit, als die Undankbarkeit im Lauf der letzten 30 Jahre ihren Höhepunkt erreichte, verändert. Die Stärke der Heliosphäre hat signifikant abgenommen. Es mag meine Einbildung sein, aber ich erinnere mich daran, dass die Sonne gelber war, als ich ein Kind war. Und zwischen 2008 und 2010 verringerte sich die Sonnenaktivität auf nie dagewesene Werte (siehe zum Beispiel Stuart Clark: “Absence of Sunspots Make Scientists Wonder…”, Washington Post, 22. Juni, 2010). Könnte es sein, dass die Sonne, Inbegriff der Großzügigkeit, dabei ist, in eine turbulente Phase überzutreten, die die Finanzkrise auf der Erde widerspiegelt, die vor allem eine Krise von Geben und Empfangen ist?

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