Kapitel 19: Nicht-Akkumulation

Wenn die Akkumulation des Reichtums nicht mehr von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist, werden sich große Veränderungen in den Moralvorstellungen ergeben. Wir sollten imstande sein, uns von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, die uns seit zweihundert Jahren peinigen und durch die wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben.

(John Maynard Keynes)

Seien Sie barmherzig, bevor Reichtum Sie begehrlich macht.
(Sir Thomas Browne)

Ich habe in diesem Buch ein Konzept von Reichtum formuliert, der nicht die Form von Akkumulation annimmt sondern ein Fließen ist. Diese Idee ist nicht neu: Erst mit dem Aufkommen agrarischer Zivilisationen wurde Reichtum mit Anhäufung gleichgesetzt. Weil Jäger und Sammler mit wenigen Ausnahmen ein nomadisches Leben führen, sind für sie Besitztümer im wahrsten Sinne des Wortes eine Last. Der Bauer hingegen ist sesshaft. Nicht nur das, er ist auf die Lagerung von Nahrungsmitteln für seinen Lebensunterhalt angewiesen, besonders wenn er Getreideanbau betreibt. Die Bevölkerungsdichte der Jäger und Sammler hielt sich im Rahmen der Tragfähigkeit des naturbelassenen Ökosystems. Sie passten sich an und zogen in Trockenzeiten oder bei Überflutungen einfach weiter; der Bauer nicht. Er musste damit rechnen, dass auf sieben fette Jahre sieben magere folgten. Daher bedeuteten große Nahrungsmittelvorräte die größtmögliche Sicherheit. Anzusammeln und vorzusorgen war die beste Form von Sicherheit. Daraus ergaben sich Wohlstand, Ansehen und viele der Gewohnheiten, die wir heute als Tugenden betrachten: Sparsamkeit, Verzicht, etwas auf die hohe Kante legen, eine hohe Arbeitsmoral, Fleiß und Gewissenhaftigkeit.

Die Jäger und Sammler legten keine Nahrungsmittelvorräte an. Sie arbeiteten nicht mehr, als nötig war, um die unmittelbaren Bedürfnisse zu stillen und konnten daher lange Perioden der Muße genießen. Die Freizeit, die sich der Bauer nimmt, kommt immer ein wenig mit schlechtem Gewissen: Er könnte noch etwas härter arbeiten, ein bisschen mehr Vorräte anlegen – man weiß ja nie was kommt. Auf einem Bauernhof gibt es immer irgendetwas zu tun. Wir heute haben die Geisteshaltung des Bauern und auch die bäuerliche Definition von Reichtum geerbt und zum Äußersten getrieben.1 Nach dem Agrarzeitalter wurde diese Gesinnung (Arbeitsmoral, das Aufopfern der Gegenwart für die Zukunft, Akkumulation und Kontrolle) im Maschinenzeitalter noch einmal auf einer neuen Ebene perfektioniert,2 was zur Ansammlung von Reichtümern führte, die sich der reichste Pharao nicht hätte träumen lassen.

Und heute leben wir im sogenannten Informationszeitalter, das noch einmal eine Steigerung dieser Gesinnung darstellt. Wir sind Zeugen einer Akkumulation von Reichtum inmitten von Armut und einer Entfremdung von der natürlichen Welt, die bei weitem alles bisherige übertreffen. Viele Beobachter haben aufgezeigt, dass jedes dieser “Zeitalter” auf das vorherige mit einem Tempo folgt (oder es eigentlich überlagert), das sich exponentiell beschleunigt. Sehr vereinfacht gesprochen: Das Agrarzeitalter dauerte drei Jahrtausende, das industrielle Zeitalter drei Jahrhunderte, das Informationszeitalter drei Jahrzehnte.3 Jetzt, das spüren viele, stehen wir kurz vor der Singularität: vielleicht ein Strudel lauter neuer Zeitalter zusammengestaucht in Jahre, Monate, Tage, und dann ein Übergang in ein völlig neues Zeitalter, das wir uns nicht vorstellen können, weil es sich qualitativ von allem davor unterscheidet. Wenn wir auch jetzt noch nicht viel über das kommende Zeitalter der Wiedervereinigung wissen können, so ist eines sicher: Die Menschen werden nicht länger so tun, als würden die Naturgesetze für sie nicht gelten.

Bestimmt ist Akkumulation einer dieser Verstöße gegen die Naturgesetze. Das Ansammeln steht im Widerspruch zum neuen Menschen und seiner Beziehung zur Natur. In der Natur ist das Horten von mehr Ressourcen, als ein Individuum selbst verbrauchen kann, nicht unbekannt, aber selten, und man kann das Anlegen von Nahrungsvorräten (wenn zum Beispiel Eichhörnchen Nüsse vergraben) meist anders erklären.4 Ganz allgemein ist das Fließen, nicht das Anhäufen charakteristisch für natürliche Systeme. Die Zellen in einem Tier speichern nicht mehr Zucker, als sie für ein paar Sekunden brauchen, und vertrauen auf die ständige Versorgung durch ihr Universum, den Körper.

Evolutionsbiologen bieten aus der Perspektive des genetischen Determinismus zwei mögliche Erklärungen für das Horten bei den Menschen. Erstens gewährt es Sicherheit und stellt damit einen Überlebensvorteil dar. Jäger und Sammler und andere Arten würden es auch tun, so die Meinung, aber ihnen fehlen weitgehend die Mittel dazu. Die zweite Erklärung ist, dass demonstratives Anhäufen und offen zur Schau getragener Ressourcenverbrauch eine Art Balzverhalten sind. Der Biologe Walter K. Dodds drückt es so aus:

Männer und Frauen demonstrieren übersteigert ihre Kontrolle über Ressourcen und deren Verbrauch (ein Beitrag zum Luxus-Fieber), weil die übermäßige Aneignung von Ressourcen ein sexuell selektierter Charakterzug ist. In einer Gesellschaft, in welcher der Lebensstandard hoch ist, reicht es nicht einfach, Kontrolle über genug Ressourcen zu demonstrieren, die das eigene Leben, das des Partners und der Nachkommen gewährleisten. Man muss über mehr Ressourcen verfügen als ein potentieller Konkurrent um Sexualpartner, um attraktiv zu erscheinen.5

Angenommen die Prämissen der konventionellen genetischen Theorie stimmen (deren Kritik den Rahmen dieses Buches sprengen würde), dann scheint das Argument wasserdicht zu sein. Recht subtil beruht diese Erklärung jedoch auf einem Zirkelschluss, der unsere heutige Lebenswirklichkeit von Knappheit, Angst und Konkurrenz hinaus auf die Natur projiziert. Ressourcen anzuhäufen und zu verschwenden ist nur in einer Gesellschaft ein Selektionsvorteil, in der die Ressourcen nicht unter allen gleich aufgeteilt werden. In einer geschenkbasierten Kultur des Teilens ist das Wohlergehen Ihrer Kinder nicht so sehr davon abhängig, ob Ihr Partner ein großer Jäger oder eine erfolgreiche Sammlerin ist. Außerdem sprechen Befunde aus der Anthropologie gegen die These von Dodd. Ihnen zufolge produzierten Jäger und Sammler sowie primitive Bauern weniger als benötigt und verbrachten eher mehr Zeit mit Muße als damit, Ressourcen anzusammeln und zu kontrollieren.6 Also herrschte dort keine genetisch bedingte Konkurrenz um das zur Schau Stellen von Reichtum. Im Gegenteil, das Horten führte nicht zu Ansehen, sondern galt als Schande. Wenn außerdem Ressourcen vorwiegend geteilt wurden, war eine höhere Produktionsleistung nicht nötig. Wenn überhaupt, dann hätte die genetische Selektion die Neigung zu teilen und zum Wohlergehen des Stammes beizutragen begünstigt. Mit ein bisschen Übertreibung können wir sagen, dass in einer Schenkgemeinschaft das rationale Eigeninteresse mit Altruismus gleichzusetzen ist.

Die irrige Annahme vom getrennten und eigenständigen Selbst ist so tief in uns verankert, dass wir sie in verschiedenen Gestalten oft für unanzweifelbare Wahrheiten halten. Wenn wir nach der “menschlichen Natur” fragen, konstruieren wir eine Vergangenheit, in der “jeder Mensch (oder vielleicht eher jede Familie) für sich allein” war, und wir nehmen an, dass die Entstehung von Gemeinschaften eine spätere Entwicklung, eine Verbesserung des natürlichen Urzustands gewesen sei. Bezeichnenderweise waren sich zwei einflussreiche Philosophen auf dem Gebiet, Hobbes und Rousseau, in diesem Punkt einig, obwohl sie eigentlich entgegengesetzte Meinungen über ein Leben im Naturzustand vertraten. Für Hobbes war das Leben „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz”, und auch für Rousseau war es einsam:

Da doch in diesem primitiven Stande, wo die Menschen weder Häuser noch Hütten noch Eigenthum von irgend einer Gattung hatten, ein jeder sich lagerte, wo ihn der Zufall hinführte, oft nur für eine einzige Nacht; wo die Männchen und Weibchen eben so zufälliger Weise, wie sie einander ungefähr begegneten und Gelegenheit oder Trieb es mit sich brachte, sich zusammen thaten, ohne daß die Sprache ein sehr nothwendiger Dolmetscher der Dinge war, die sie einander zu sagen hatten, und sich mit eben so wenig Umständen wieder von einander verliefen.

Die Mutter säugt ihr Kind Anfangs ihres eigenen Bedürfnisses wegen, hernach, da die Gewohnheit es ihr lieb gemacht hat, wegen des Bedürfnisses des Kindes selbst. Aber so bald die Kinder groß genug sind sich ihr Futter selbst zu suchen, so verlaufen sie sich von der Mutter. Und weil sie kaum eine andere Möglichkeit hatten, einander nicht zu verlieren als beständig in Sichtweite zu bleiben, kam es bald dahin, daß sie einander nicht mehr erkannten, wenn sie einander wieder trafen.7

Ob es damals stimmte oder nicht, heute ist jedenfalls sicher, dass das Anhäufen zumindest in gewissem Maß zu unserer Sicherheit, und sogar zu unserer sexuellen Attraktivität beiträgt. Aber nicht mehr lange. Die Mentalität des Anhäufens fällt mit dem Aufstieg der Mentalität der Getrenntheit zusammen und geht auch zusammen mit dem Zeitalter der Getrenntheit zu Ende. Für das erweiterte Selbst in einer Ökonomie des Schenkens ist Akkumulation nicht mehr sinnvoll.

Ein wichtiges Thema in meiner gesamten Arbeit ist die Einbindung der Mentalität von Jägern und Sammlern in die technologische Gesellschaft – also eine Vollendung der Vergangenheit, kein Bruch mit ihr. In diesem Buch habe ich schon die Entsprechungen auf der Geldebene beschrieben: eine Schwundwährung entspricht der Nicht-Akkumulation, die Abschaffung ökonomischer Renten entspricht der Aufhebung von Eigentum, und Muße sowie Wachstumsrücknahme entsprechen der Unterproduktion. Bezeichnenderweise fühlen sich Menschen auch auf der persönlichen Ebene zu diesen Werten hingezogen: Es gibt die Bewegung für “Freiwillige Einfachheit”, und auch das Wesen der Arbeit wird in Frage gestellt. Diese Menschen sind die Pioniere für eine neue und gleichzeitig uralte Seinsart, die bald zur Norm werden wird.

Bill Kauth, Mitbegründer des ManKind Project und anderer Organisationen, ist ein international bekannter sozialer Erfinder und ein reicher Mann, wenn auch nicht im konventionellen Sinn. Er besitzt sehr wenig: ein altes Auto, ein paar persönliche Dinge, und so weit ich weiß, hat er kein Geldvermögen. Er erzählte mir, dass er vor vielen Jahren ein persönliches Gelübde abgelegt habe, das er “Einkommensdeckelung” nennt. Er gelobte, nie mehr als $24.000 in einem Jahr zu verdienen. Und trotzdem sagt er: “Ich habe in manchen der weltbesten Restaurants gegessen, bin an viele der schönsten Plätze auf der Welt gereist und hatte ein unglaublich reiches Leben.”

Im Zeitalter des Selbst in Getrenntheit begegnen wir Menschen und Organisationen immer mit ein wenig Zynismus und Misstrauen.. Wenn wir einen inspirierenden Vortrag hören oder an einem transformativen Seminar teilnehmen, fragen wir uns insgeheim (oder gar nicht so geheim): “Wie profitiert dieser Kerl davon? Wo ist der Trick?” Sofort entdecken wir jede Form von Heuchelei, zum Beispiel “Spenden”, die eigentlich gar nicht freiwillig sind. Unser Argwohn ist oft gerechtfertigt. Zu viele religiöse Kulte, spirituellen Bewegungen und Netzwerk-Marketing Organisationen laufen letztlich darauf hinaus, dass ein paar Menschen an der Spitze damit reich werden, und wir fragen uns: “Darum ist es also die ganze Zeit gegangen?” Bill Kauth versuchte, eine Möglichkeit zu finden, wie man die beachtliche Dynamik von Netzwerk-Marketing nutzen und gleichzeitig das Moment der Gier ausschließen könnte. Er sagt, die Einkommensdeckelung sei der einzige Weg gewesen, von dem er sich etwas verspreche.

Der Generalverdacht, unter dem jede gute Sache steht (“Eigentlich geht es ja nur darum, dass jemand versucht, von mir zu profitieren”), hat ein inneres Gegenstück, wenn wir unsere eigenen Motive hinterfragen. Auch dieser Verdacht gegen uns selbst ist manchmal nicht unbegründet. Es gab Zeiten, da schien mir, als wäre alles, was ich je getan habe, von Hintergedanken motiviert gewesen: dass all meine Geschenke kalkulierte Versuche gewesen wären, jemanden zu beeindrucken oder mich anzubiedern, dass all meine Großzügigkeit ein pathetischer Versuch gewesen wäre, Anerkennung zu erheischen, dass jede meiner Beziehungen vom geheimen Plan motiviert war, daraus Nutzen zu ziehen. Es schien, als hätte ich kein einziges Mal in meinem Leben etwas aus wahrer Großzügigkeit getan, als wäre es mir im Geheimen immer nur um Selbstverherrlichung gegangen. Dieser Selbstekel hallt archetypisch in Mythen und Religionen wider. Die Abhandlung „Sünder in der Hand eines zürnenden Gottes“ von Jonathan Edward kommt einem in den Sinn, sowie die von Johannes Calvin formulierte Doktrin von der völligen Verderbtheit des Menschen. Im Buddhismus ist es die beschämende Erkenntnis, wie viele der eigenen Handlungen durch das Ego motiviert sind, selbst und gerade der Versuch, das Ego zu transzendieren!

Ich stimme Bill zu: Einkommensdeckelung ist ein wirksames Mittel gegen diesen Verdacht, der Organisationen und Ideen vergiftet, die das Potential haben, Menschenleben zu verändern. Sie wirkt auch ähnlich in unserem Inneren und verleiht unseren Worten Kraft, indem sie den Selbstzweifel über unsere Motivation entkräftet. Sie versichert uns selbst und den anderen, dass unsere Motivation aufrichtig ist und macht die Menschen frei, unsere Geschenke anzunehmen. Bills Gelöbnis war ein zutiefst persönliches, das er für sich behielt, bis er mir Jahrzehnte später die Erlaubnis gab, darüber zu schreiben. Erst meinte ich, dass es viel wirkmächtiger gewesen wäre, wenn er es allen anderen mitgeteilt hätte, aber nach längerem Nachdenken änderte ich meine Ansicht. Bill wird die wesentliche Energie dieses Gelöbnisses ausstrahlen, ob er nun anderen davon erzählt oder nicht. So etwas öffentlich mitzuteilen kann außerdem (bei sich selbst und anderen) den Verdacht wecken, dass der wahre Grund dafür Eitelkeit ist: gut auszusehen, Beifall erheischen zu wollen. Bill deutete aber an, dass er irgendwann einmal vorhabe, das Konzept zur Verpflichtung innerhalb einer Gemeinschaft zu machen, um untereinander das Vertrauen und die wechselseitige Abhängigkeit zu stärken.

Die heilsamen psychologischen und gesellschaftlichen Effekte der Einkommensdeckelung veranlassten mich dazu, darüber in Bezug auf die heilige Ökonomie der Vergangenheit und der Zukunft nachzudenken. Nach dem, was ich über vormoderne Kulturen gelesen habe, galt damals verbreitet eher etwas wie eine “Vermögens-deckelung”, die ich Nicht-Akkumulation nenne. Es sei an den Stamm in Alaska erinnert, über den ich im Kapitel 18 geschrieben habe: Das Delikt war nicht, dass der Mann ein zu erfolgreicher Jäger gewesen war, sondern dass er die Beute nicht geteilt hatte.

Nicht-Akkumulation bildet die Jäger- und Sammlergesellschaften nach, in denen Überfluss ohne Akkumulation herrschte, und in denen jene Prestige erlangten, die am meisten gegeben hatten. Um am meisten geben zu können, musste man auch am meisten bekommen haben, entweder von der Natur oder von anderen Menschen. Der große Jäger, die begabte Künstlerin oder Musikerin, die Tatkräftigen, Gesunden und Erfolgreichen hatten mehr zu geben. Auf jeden Fall ist diese Art von Prestige für alle von Vorteil. Einkommen zu begrenzen macht erst dann Sinn, wenn es zu Akkumulation führt oder zu leichtfertigem beziehungsweise sozial destruktivem Konsum verleitet. Mit anderen Worten: Das Problem ist nicht das hohe Einkommen, sondern dass sich die Erträge des Einkommens irgendwann anstauen, sodass ihr Fließen ins Stocken gerät oder gar stagniert.

Nicht-Akkumulation ist die bewusste Absicht, nicht mehr als ein bescheidenes Vermögen anzusparen. Sie entsteht nicht aus dem Wunsch, tugendhaft zu sein, sondern basiert auf der Einsicht, dass sich das Geben viel besser anfühlt als das Behalten, dass die vermeintliche Sicherheit durch Akkumulation eine Illusion ist, und dass zu viel Geld und Besitz unser Leben beschweren. Nicht-Akkumulation ist tief mit dem Geist der Gabe verbunden, dessen Grundprinzip auch ist, dass die Gabe zirkulieren muss. Erinnern Sie sich an Mauss: “Ganz allgemein, was man geschenkt bekam, und was sonst auf welche Art auch immer in den eigenen Besitz gelangte, behält man nicht für sich, außer man kann es nicht entbehren.” Anders gesagt: Wenn du es brauchst, nutze es. Wenn nicht, gib es weiter. Dieses Prinzip ist so einleuchtend, dass es sogar ein Kind verstehen kann. Warum sollte man etwas für sich behalten, wenn man es nicht brauchen kann? Es ist nur das “was, wenn”, das uns dazu treibt, Dinge zu behalten und zu horten: „Was, wenn ich in Zukunft einmal nicht genug habe?“ In einer Kultur des Schenkens würde Ihnen jemand das schenken, was Sie brauchen. In einer Kultur des Hortens ist die Angst vor dem “was, wenn” eine selbsterfüllende Prophezeiung. Sie erzeugt genau die Verletzlichkeit und Knappheit, deren Existenz sie unterstellt.

Sie mögen jetzt denken, dass wir nun mal in einer Kultur des Hortens und mit einem Geldsystem, das Knappheit erzeugt, leben; dass daher Nicht-Akkumulation heute nicht praktizierbar wäre. Sie denken vielleicht wehmütig, es wäre schön, wenn alle anderen sich daran hielten. Aber die anderen tun es nicht, also schützen Sie sich besser selbst. Das alles ist sehr logisch. Ich kann Ihnen kein rationales Argument anbieten, um es zu entkräften. Alles, was ich tun kann, ist vorzuschlagen, dass Sie beobachten, wenn Sie dieses Kapitel lesen, ob abgesehen von der Vernunft noch etwas anderes Ihr Herz berührt. Schauen Sie doch, wohin uns Vernunft, praktisches Denken und das auf Nummer sicher gehen gebracht haben. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, auf dieses andere Etwas zu hören.

Ich plädiere gewöhnlich nicht für heroische, abrupte Umbrüche. Wenn Sie wohlhabend sind, dann ist vielleicht ein guter Weg zur Nicht-Akkumulation, wenn Sie gleich jetzt eine Demurrage auf Ihren eigenen angehäuften Reichtum anwenden und ihn um 5% pro Jahr verkleinern. In einer heiligen Ökonomie wird das sowieso passieren – warum also nicht gleich damit anfangen?

Freilich lebten arme Menschen schon immer die Nicht-Akkumulation. Die Wirtschaft zwingt das jetzt auch der Mittelklasse auf, weil die meisten Menschen Dinge auf Kredit kaufen, statt dafür zu sparen. Während zwar verzinste Schulden das Wirtschaftsleben der Zukunft nicht mehr dominieren werden, ist ein Vorbote für diese nicht-akkumulative Wirtschaft schon Alltag für viele Amerikaner: Sie haben schon jetzt keine Sparbücher mehr.

Trotzdem spielen auch große Kapitalansammlungen ihre Rolle, und es gibt und braucht auch Menschen mit der Gabe, Geld als ein Medium heiliger Kreativität zu nutzen, als rituellen Talisman, der die Macht hat, menschliche Aktivitäten zu koordinieren und auf gemeinsame Vorhaben auszurichten. Es ist das Geld, das entscheidet, ob morgen fünftausend Menschen einen Wolkenkratzer bauen, eine Giftmülldeponie säubern oder an einem Higtech-Film zusammenarbeiten. Es gibt natürlich auch andere Rituale, mit deren Hilfe wir unsere Aktivitäten koordinieren können. Manche von ihnen beschwören Geschichten und Mächte, die sogar älter als das Geld sind, das aber nichtsdestotrotz ein starkes Werkzeug bleibt. Darum geht es beim “heiligen Investment”, dem Thema des folgenden Kapitels. An die, die über Reichtum verfügen: Ich lade Sie ein, nachzudenken, was Sie mithilfe der kollektiven menschlichen Kraft schaffen wollen. Oder: wie können Sie Ihr Geld auf die schönste Art und Weise nutzen?

Jedes Lebewesen in der Natur, jede Zelle im Körper kann nur eine begrenzte Energiemenge umsetzen. Das gilt auch für uns. Fließt zu viel durch ein Rohr, dann kann es platzen. Eine zu große Anhäufung ist wie ein Tumor. Unverhältnismäßige Anschaffungen wie ein Schloss, das man kaum einmal betritt, oder ein fünfzehnter Rolls-Royce sind Symptome von zu viel Einkommen. Das Lebewesen versucht verzweifelt, den Energiefluss abzuleiten, gleichzeitig loszulassen und daran festzuhalten. Der verschwenderische reiche Mann will den Überfluss loswerden, um Geben und Bekommen in ein Gleichgewicht zu bringen. Aber statt dessen kauft er einfach Zeug und hortet es. Was ist die Angst, die ihn dazu treibt, daran festzuhalten, selbst wenn er loslässt? Es ist die Angst, die das Selbst in Getrenntheit, allein im Universum, beherrscht. Akkumulation ist ein Versuch, das winzige Selbst in Getrenntheit zu vergrößern. Aber letztlich ist diese Vergrößerung eine offensichtliche Selbsttäuschung. Wir verlassen diese Welt so, wie wir gekommen sind: nackt.

Die meisten Spielereien der Reichen sind ein Ersatz für das, was sie wirklich brauchen: Sportautos statt Freiheit, Villen statt der Verbindungen, die ein geschrumpftes Selbst verloren hat, Statussymbole anstelle von echtem Respekt und Selbstrespekt. Dieser Affenzirkus um den Reichtum ist ein Trauerspiel. Selbst die Sicherheit, die er angeblich bringt, ist eine Täuschung, weil die Schicksalsschläge des Lebens einen Weg finden, die Festung des Reichtums zu infiltrieren und ihre Einwohner mit verzerrten Formen derselben gesellschaftlichen Übel heimzusuchen, unter denen auch alle anderen leiden. Klar, man kann sich leicht alle möglichen medizinischen Notfälle vorstellen, bei denen Reichtum lebensrettend sein kann – ja und? Wir werden sowieso alle einmal sterben. Egal wie lange Sie leben, der Moment wird kommen, an dem Sie auf Ihre Jahre zurückschauen, und sie werden Ihnen kurz erscheinen, wie ein Blitz in der finsteren Nacht. Sie werden erkennen, dass es letztlich nicht der Sinn des Lebens ist, mit größter Sicherheit und maximalem Komfort zu überleben, sondern dass wir hier sind, um zu geben, um das hervorzubringen, was uns schön erscheint.

Nicht, dass Sie jetzt denken, es sei etwas Edles, die Nicht-Akkumulation zu praktizieren. Ich kann Ihnen versichern, dass ich, als ich begann auf diese Weise zu leben, kein Gefühl der Selbstaufopferung sondern eher eines von Leichtigkeit und Freiheit hatte. Ich bin ein Mensch mit ziemlich durchschnittlicher Begabung zur Großzügigkeit und habe keinen Heiligenschein. Ich trage hier keine edle Idee an Sie heran, sondern einfach eine praktische. Erstens, weil sie mein Herz leicht und frei macht. Zweitens, weil ich weiß, dass ich auch bekommen werde, wenn ich gebe. Drittens, weil das Geschenk den Radius meines Selbst erweitert, und ich dadurch im permanenten Reichtum des Verbundenseins leben werde. Viertens, weil ich daran glaube, dass ich schön leben werde, sogar in materieller Hinsicht. Ein Beispiel: Ich liebe das Meer, und jahrelang träumte ich davon, eines Tages in einem Haus an der Küste zu leben. Dieser Traum ist so lebendig, dass ich die Möwen kreischen höre und das Salz in der Luft rieche. Früher glaubte ich, dass ich, um das haben zu können, unglaublich viel Geld verdienen müsste. Jetzt glaube ich, dass ich, auch wenn ich vielleicht niemals ein Haus am Meer “besitzen” werde, einmal eingeladen werde, in einem zu wohnen, “jederzeit”, und wenn der Eigentümer sagt: “Fühl dich wie zu Hause!”, dann wird er es aus tiefstem Herzen so meinen.

Falls die Welt meine Arbeit enthusiastisch aufnimmt, dann erwarte ich, dass ich sehr viele Geschenke bekommen werde, viel mehr als ich für mich selbst nutzen kann. Welch eine Verschwendung wäre es, große Reichtümer, Wertpapiere und Aktien, Investments und Portfolios, Keller und Dachböden voll von Besitztümern anzusammeln! Warum anhäufen, wenn es auf dieser Welt so viel Überschüssiges zu teilen gibt? Ob in unserer Lebenszeit eine Schwundwährung und eine Schenkökonomie entstehen werden oder nicht, wir können jetzt sofort so leben, als gäbe es sie. Wir können, um Gesells Ausspruch zu zitieren, Geld auf die Rangstufe von Regenschirmen reduzieren und es freimütig an Freunde, die es brauchen, verborgen oder verschenken. Es gibt natürlich keine Garantie, dass ich immer gerade dann das Geld oder die Geschenke bekommen werde, wenn ich sie brauche. Ich rechne damit, dass ich auch manchmal gar kein Geld haben werde, aber dass mir das keine große Angst machen wird. Andererseits könnte ich auch Hunger leiden und bereuen, dass ich mir nicht doch einen Notgroschen zur Seite gelegt und vorgesorgt habe. Aber das bezweifle ich. Für mich überwiegen das Freisein von Sorgen und Ängsten und die offene, fließende, leichte Erfahrung des Loslassens bei weitem das Risiko. Wer Sicherheiten will, soll weiter sammeln und horten, bis er entdeckt, dass die versprochene Sicherheit eine Fata Morgana ist, dass die Widrigkeiten des Lebens immer einen Weg finden, um die Festung des Reichtums einzunehmen.

Auf einer tieferen Ebene ist die Unterscheidung zwischen Akkumulation und Nicht-Akkumulation eine falsche, und sie unterstellt die Annahmen von Knappheit und Getrenntsein. Wer in der Denkart der Gabe lebt, erfährt die Fülle der Welt als einen persönlichen Reichtum und macht in seinem Leben dann auch Erfahrungen, die diesem Denken entsprechen. Mit der Denkart von Getrenntheit scheinen Geschenke, Kredite und Ersparnisse sehr verschieden voneinander zu sein, aber sind sie das wirklich? Wenn ich gerade in einer Lebensphase bin, in der ich mehr bekomme, als ich brauchen kann, dann kann ich es weitergeben und die Dankbarkeit anderer wecken; oder ich kann es anderen leihen, dann verlasse ich mich auf Verpflichtung statt auf Dankbarkeit; oder ich könnte das Geld sparen, und mich damit scheinbar gar nicht auf andere verlassen. Aber diese drei Wahlmöglichkeiten sind gar nicht so unterschiedlich, wie sie scheinen. Erst einmal, wie schon früher angesprochen, ist die Unterscheidung zwischen Dankbarkeit und Verpflichtung gar nicht so scharf, und in Schenkkulturen verstärken die beiden einander. Das Ergebnis ist das Gleiche, ob nun Dankbarkeit jemanden dazu bewegt, denen etwas zu geben, die ihm gegeben haben, oder ob es die sozialen Übereinkünfte sind, die letztlich auf genau demselben Prinzip der Dankbarkeit basieren (dass es richtig ist, denen zu geben, die selbst geben). Ähnlich sind Ersparnisse und Investments in einem Währungssystem, das wie unseres auf Kredit basiert, gar nicht so verschieden von Krediten. Ein Sparbuch ist ein Kredit auf Abruf an eine Bank. Wie ein Kredit besagt auch ein Sparbuch: “Ich habe in der Vergangenheit anderen etwas gegeben und kann in Zukunft bei anderen einfordern, dass mir etwas gegeben wird.” Selbst im Fall von Aktienkapital und materiellen Gütern beruht die Akkumulation auf sozialen Übereinkünften über Eigentum.

Gewissermaßen ist es dann für den Beschenkten unmöglich, nicht anzuhäufen. Solange ich innerhalb eines Rahmens schenke, in dem das gesellschaftlich bezeugt wird, schaffe ich mir damit für die Zukunft eine Quelle von Reichtum. (Und selbst wenn es nicht gesellschaftlich bezeugt wird, glaube ich daran, dass das Universum uns zurückgeben wird, was wir geschenkt haben; vielleicht in anderer Form, vielleicht aber auch hundertfach vervielfältigt.) Dann liegt letztlich der Kernpunkt der Nicht-Akkumulation in der Absicht, mit welcher Geld verschenkt, verliehen, investiert oder gespart wird. Mit der Geisteshaltung des Schenkens konzentrieren wir uns auf den Zweck und lassen die Erwiderung für uns zweitrangig sein, einen Nebengedanken. Mit der Geisteshaltung der Akkumulation legen wir darauf Wert, die Erwiderung sicherzustellen und zu maximieren, und wir instrumentalisieren dafür den Empfänger des Geschenks, Kredits oder der Investition. Erstere ist eine Geisteshaltung von Freiheit, Fülle und Vertrauen, letztere eine von Angst, Knappheit und Kontrolle. Wer in der ersteren lebt, ist reich. Wer in der zweiten lebt, ist arm, ganz gleich, wie viel Wohlstand er oder sie ihr eigen nennen mag.

Wenn in Zukunft gesellschaftliche Mechanismen dafür sorgen, dass ökonomische Renten (also Profite rein aufgrund des Eigentums an Land, Geld, etc.) unmöglich sind, wird diese Lebensweise nicht nur mit der spirituellen, sondern auch mit der wirtschaftlichen Logik im Einklang stehen. Wenn Geld sowieso verfällt, ist es besser, es anderen ohne Zinsen zu leihen, als mehr davon zu behalten, als man braucht. Außerdem wird der Unterschied zwischen einem Kredit, einem Geschenk und einer Investition verschwimmen, wenn die Geisteshaltung der Fülle allgemein verbreitet ist. Mit oder ohne die formale Übereinkunft, ein Geschenk zu vergelten, werden wir uns sicher fühlen, weil wir wissen, dass eine Verpflichtung entstanden ist; wenn nicht gegenüber einer bestimmten Person, dann gegenüber der Gesellschaft oder überhaupt gegenüber dem Universum. Diese Erkenntnis ist eine natürliche Folge der neuen Geschichte vom Selbst (dem Selbst in Verbundenheit), welche der heiligen Ökonomie zugrunde liegt, in die wir übergehen. Mehr für dich ist mehr für mich. Aus der spirituellen Perspektive war das schon immer so, selbst am Höhepunkt des Zeitalters der Getrenntheit. Aus der ökonomischen Perspektive war es so in der Schenkkultur von einst, und es wird wieder so sein, wenn wir neue wirtschaftliche Institutionen schaffen, um eine Schenkökonomie in einem modernen Kontext wiederzuerrichten.

Diese neuen auf Geschenke ausgerichteten wirtschaftlichen Institutionen sind sowohl Voraussetzung als auch Folge eines allgemeinen Gesinnungswandels. Wenn genug Menschen beginnen, ein Leben der Nicht-Akkumulation zu führen, werden sie die psychischen Grundlagen schaffen, auf denen die neuen wirtschaftlichen Institutionen beruhen werden. Konkret werden die Menschen die neuen Formen von Geld als etwas erkennen, das ihre Werte und spirituellen Anschauungen repräsentiert. Sie werden “es kapieren”, und sie werden es begeistert übernehmen. Das passiert schon: Trotz der enormen strukturellen negativen Anreize für Komplementärwährungen halten Menschen sie dennoch für aufregend und verlockend. Selbst wenn es noch wenig wirtschaftliche Gründe dafür gibt, sie zu gebrauchen, wollen sie die Menschen trotzdem, weil sie intuitiv erfassen, dass diese Währungen mit der neuen Geschichte vom Selbst, in die sie übergehen, in Einklang stehen. Unsere spirituellen Ahnungen zeigen im Voraus, wo die Wahrheit der Zeit, die auf uns zukommt, liegt: Besitztümer sind eine Last, und wahrer Reichtum kommt vom Teilen. Was wir anderen antun, das tun wir uns selbst an – im Guten wie im Schlechten.

1 Bitte beachten Sie, dass die Unterscheidung zwischen Wildbeutern und Bauern ein Stück weit künstlich ist. Die eine Lebensform ging graduell in die andere über, und die ursprünglichen Gewohnheiten der Jäger und Sammler hielten sich lange. Manche von ihnen bestehen sogar bis zum heutigen Tage fort. Bauern, die Brandwirtschaft betrieben, die Kleinbauern im Hochmittelalter und die Bantu Hirten genossen einen fast so gemächlichen Lebensrhythmus wie die Jäger und Sammler.

2 Im Zusammenhang mit der industriellen Revolution ist das Zeitalter der Maschinen nicht etwas vom agrarischen Zeitalter Getrenntes, sondern sie überlagern sich. Seine Anfänge gehen bis in die antiken Bauherrengesellschaften zurück, deren Pyramiden und Monumente dieselbe Arbeitsteilung und dieselbe Standardisierung von Produkten, Prozessen und menschlichen Funktionen erforderlich machten, die das moderne Fabriksystem charakterisieren. Sie führten auch genauso zu Elend, Mühsal und Armut.

3 Diesen würde ich ein 30 000 Jahre währendes Zeitalter der symbolischen Kultur voranstellen (so alt sind in etwa die frühesten bildlichen Darstellungen, und einer Quelle zufolge auch die symbolische Sprache), ein 300 000 jähriges Zeitalter des Feuers, und ein 3 000 000 Jahre dauerndes Zeitalter der Steine.

4 Die Eichhörnchen pflanzen zum Beispiel eigentlich Bäume an und handeln damit als Vermittler für die Reproduktion von Bäumen. Der Baum nährt das Eichhörnchen, und das Eichhörnchen hilft dem Baum, sich fortzupflanzen, genau wie bei der Beziehung zwischen Wespen und Feigenbäumen und zwischen zahllosen anderen Arten. Beobachtet man solche Beziehungen, ist es leicht nachzuvollziehen, warum die frühen Menschen meinten, dass das Schenken ein Naturprinzip sei.

5 Walter Kennedy Dodds, Humanity’s Footprint: Momentum, Impact, and our Global Environment. New York: Columbia University Press, 2008, S.123

6 Siehe Stone Age Economics von Marshall Sahlin für zahlreiche Beispiele von Unterproduktion.

Marshall Sahlins, Stone Age Economics. New York: Routledge, 2003.

7 Jean Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Teil 1 (Übersetzung weitgehend übernommen aus: Christoph Martin Wieland: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit – Kapitel 35 Projekt Gutenberg http://gutenberg.spiegel.de )

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