Kapitel 21: Arbeit im Geist des Schenkens

 

Seltsam erscheint unsere Lage auf dieser Erde. Jeder von uns erscheint da unfreiwillig und ungebeten zu kurzem Aufenthalt, ohne zu wissen, warum und wozu. Im täglichen Leben fühlen wir nur, dass der Mensch um anderer willen da ist.

(Albert Einstein)

21.1 Auf die Dankbarkeit vertrauen

Diese Frage kommt immer wieder auf: Wie kann ich in der heutigen Geldökonomie meine Geschenke mit anderen teilen und trotzdem meinen Lebensunterhalt bestreiten? Manche, die das fragen, sind Künstler, Heiler oder Aktivistinnen, die verzweifelt eine Möglichkeit suchen, wie sie mit dem, was sie tun, “Geld verdienen” können. Andere führen ein erfolgreiches Unternehmen oder haben einen Beruf, aber sie beginnen zu spüren, dass etwas verkehrt an der Art und Weise ist, wie sie Geld für ihre Leistung verlangen.

Es verletzt ja den Geist des Schenkens, ein Entgelt für eine Leistung oder sogar für materielle Güter zu verlangen. Wenn wir zur Geisteshaltung des Schenkens überwechseln, behandeln wir unsere Erzeugnisse wie Geschenke an andere Menschen oder an die Welt. Es läuft der Natur eines Geschenks zuwider, wenn von vornherein ein Gegengeschenk festgelegt ist; das ist dann eher ein Tausch oder ein Verkauf. Außerdem betrachten viele Menschen, besonders Künstlerinnen, Heiler und Musiker, ihre Arbeit als heilig, als von einer göttlichen Quelle inspiriert, und unendlich wertvoll. Dieser Arbeit einen Preis beizumessen fühlt sich an wie eine Entwertung, ein Sakrileg. Aber sicher verdient es der Künstler, für seine Arbeit entschädigt zu werden, oder?

Hinter dem Wort “entschädigen” steht die Idee, dass man seine Zeit für diese Arbeit geopfert habe. Man hat seine Zeit dieser Arbeit gewidmet, wo man sie statt dessen mit etwas verbracht haben könnte, das man tun möchte. Ein anderer Zusammenhang, in dem wir dieses Wort verwenden, sind Gerichtsverfahren, zum Beispiel wenn jemand eine Entschädigung für eine Verletzung, für Schmerzen und Leid, verlangt.

In einer Wirtschaft, die das Attribut “heilig” verdient, wird Arbeit nicht länger eine Verletzung von Zeit oder Leben sein; sie wird nicht mehr eine Frage von Schmerz und Leiden sein. In einer heiligen wird Ökonomie anerkannt, dass Menschen arbeiten wollen: Sie wollen ihre Lebensenergie dafür verwenden, ihre Gaben zum Ausdruck zu bringen. Hier ist kein Platz für die Vorstellung von “Entschädigung”. Arbeit ist eine Freude, ein Grund zur Dankbarkeit. In ihrer besten Form hat sie keinen Preis. Klingt es nicht blasphemisch für Sie, wenn man sagen würde, Michelangelo sei dafür entschädigt worden, die Fresken in der Sixtinische Kapelle zu malen, oder Mozart für sein Requiem? Keine begrenzte Summe Geld reicht aus für das Göttliche. Die einzig angebrachte Form, die großartigsten Werke anzubieten, ist, sie zu schenken. Selbst wenn zur Zeit nur wenige von uns Zugang zum Genius eines Mozart haben, sind wir alle dazu fähig, heilige Arbeit zu verrichten. Wir sind alle imstande, über unser Können etwas etwas durch uns hindurchfließen zu lassen, das größer ist als wir. Etwas nimmt durch uns Form an, verwendet uns als Instrument für seine Manifestation auf Erden. Können Sie sehen, wie fremd die Vorstellung von “Entschädigung” für eine solche Art von Arbeit ist? Können Sie fühlen, wie schimpflich es ist, eine heilige Schöpfung zu verkaufen? Wie hoch der Preis auch gewesen sein mag, Sie haben sich und Sie haben die Quelle, aus der das Geschenk kam, unter Wert verkauft. Ich sage es gerne so: “Manche Dinge sind zu gut, um sie zu verkaufen. Wir können sie nur verschenken.”

Sofort stellen sich der Leserin Fragen. Sie mögen sich vielleicht trotz des Vorangehenden dabei ertappt haben zu denken: “Aber verdient es nicht ein Künstler, für seine Arbeit entschädigt zu werden?” Das Gefühl der Getrenntheit ist so tief! Also sagen wir es noch einmal anders: “Verdient nicht der, der großartige Geschenke macht, auch große Geschenke im Gegenzug?” Die Antwort, sofern “verdienen” überhaupt irgendeine Bedeutung hat, ist ja. In einer heiligen Ökonomie wird das eher über Dankbarkeit als durch Zwang geschehen. Die Haltung des Verkäufers ist: “Ich werde Ihnen dieses Geschenk geben, aber nur, wenn Sie mir dafür etwas bezahlen, nur wenn Sie mir geben, so viel es meiner Meinung nach wert ist.” (Aber egal wie hoch der Preis ist, der Verkäufer wird sich immer übers Ohr gehauen fühlen.) Die Haltung des Schenkenden ist im Gegensatz dazu: “Ich werde Ihnen dieses Geschenk geben. Und ich vertraue darauf, dass Sie mir geben, was Sie für angemessen halten.” Wenn Sie ein großes Geschenk machen, das trotzdem keine Dankbarkeit hervorruft, dann ist das vielleicht ein Zeichen, dass Sie es der falschen Person geschenkt haben. Der Geist des Geschenks reagiert auf Bedürfnisse. Dankbarkeit hervorzurufen ist ist nicht das Ziel des Schenkens; sie ist aber ein Zeichen, ein Indikator dafür, dass das Geschenk gut gemacht war, dass es ein Bedürfnis getroffen hat. Das ist ein anderer Grund, warum ich anderer Meinung als gewisse spirituelle Lehrer bin, die sagen, dass ein wahrhaft großzügiger Mensch nicht wünschen wird, irgendetwas, auch nicht Dankbarkeit, im Gegenzug dafür zu erhalten.

So, sehen wir uns das jetzt in der Praxis an. Nachdem ich eine Zeit lang mit diesem Thema gerungen hatte, erkannte ich, dass es sich zwar falsch anfühlt, für meine Arbeit Geld zu verlangen, dass es sich aber gut anfühlt, Geld von Menschen anzunehmen, die dankbar dafür sind, dass es meine Arbeit gibt. Das Ausmaß von Dankbarkeit ist bei jedem Menschen einzigartig. Ich kann von vornherein nicht wissen, wie wertvoll dieses Buch für Sie sein wird. Das können auch Sie nicht im Voraus wissen. Deshalb widerspricht es dem Geist des Schenkens, für etwas Unbekanntes im Voraus zu bezahlen. Lewis Hyde illustriert diesen Punkt am einfühlsamsten:

Es mag jetzt klar sein, warum ich zuvor schrieb, dass ein Entgelt für eine Leistung tendenziell die Energie der Dankbarkeit unterbricht. Der Punkt ist, dass eine Verwandlung generell nicht im Voraus vereinbart werden kann. Wir können die Früchte unserer Arbeit nicht vorhersagen; wir können nicht einmal wissen, ob wir das Geplante überhaupt wirklich durchziehen können. Dankbarkeit erfordert eine unbezahlte Schuld, und wir sind nur so lange motiviert weiterzugehen, solange die Schuld spürbar ist. Wenn wir uns nicht mehr verpflichtet fühlen, steigen wir aus, und das zu recht. Ein transformatives Geschenk zu verkaufen verfälscht daher die Beziehung. Es impliziert, dass das Gegengeschenk schon gemacht worden sei, obwohl es in Wahrheit nicht gemacht werden kann, bevor nicht die Transformation abgeschlossen ist. Ein im Voraus bezahltes Entgelt hebt das Gewicht des Geschenks auf und entmachtet es als Mittel des Wandels. Therapien und spirituelle Verfahren, die über den Markt vermittelt werden, neigen daher dazu, ihre Energie, die für eine Verwandlung notwendig ist, eher aus einer Aversion gegen Schmerz zu beziehen als aus der Anziehungskraft, die ein höherer Zustand ausübt.1

Dementsprechend habe ich die mir möglichen Schritte unternommen, um meine Arbeit in Übereinstimmung mit dem Geist des Schenkens zu verrichten. Ich mache zum Beispiel so viel wie möglich von meinen Texten, Tonaufnahmen und Videos online verfügbar, ohne dafür etwas zu verlangen und lade die Leser ein, im Gegenzug ein Geschenk zu machen, das ihren Grad an Dankbarkeit ausdrückt. Das Geschenk muss nicht an mich gerichtet sein. Wenn sich ihre Dankbarkeit dafür, dass ich meine Arbeit zur Verfügung stelle, ans Universum richtet, dann ist es vielleicht eher angebracht, das Geschenk nicht zurück, sondern nach vorne zu vergelten.

Ein ähnliches Modell wende ich bei meinen öffentlichen Vorträgen an. Wenn ich gefragt werde, was meine Gage ist, sage ich, dass ich keine verlange. Gewöhnlich bitte ich, dass man mir die Reisekosten rückerstattet; und über das, was darüber hinaus geht, sage ich meist so etwas wie: “Das liegt an Ihnen. Geben Sie mir den Betrag (oder auch überhaupt keinen), bei dem Sie das Gefühl von Klarheit, Ausgewogenheit und Angemessenheit haben; einen Betrag, der Ihre Dankbarkeit dafür widerspiegelt, dass ich gekommen bin, um bei Ihnen zu sein.” Das ist keine Formel, es ist eine innere Haltung, die sich an die jeweilige Situation anpasst. Wenn es ein Standardhonorar für Gastredner gibt, werde ich nicht unbedingt auf einer Ausnahme für mich bestehen. Außerdem signalisiert mir manchmal ein Angebot im Voraus, wie sehr diese Menschen das haben wollen, was ich anzubieten habe. Ich möchte meine Geschenke dorthin geben, wo sie gewünscht sind, und Geld ist eine von mehreren Möglichkeiten, mit denen diesem Wunsch Ausdruck verliehen werden kann.

Es ist wichtig, ein “Leben im Geist des Schenkens” nicht zu einem Fetisch oder zu einem Maß für Tugendhaftigkeit hochzustilisieren. Tun Sie es nicht, um gut zu sein – tun Sie es, um sich gut zu fühlen. Wenn Sie merken, dass Sie sich (wie ich) über einen großen fetten Scheck freuen, dann ist das okay! Wir Menschen sind davon beglückt, große Geschenke zu erhalten. Selbst wenn Sie sich (wieder, wie ich es manchmal tue) kleinlich, nachtragend und habgierig fühlen, nehmen Sie das auch einfach zur Kenntnis. Der Weg zurück zum Geschenk ist ein langer – so weit sind wir davon abgekommen. Ich sehe mich selbst als einen von vielen Entdeckern eines neuen (und alten) Territoriums, der von den Entdeckungen der anderen und aus den eigenen Fehlern lernt.

Wenn ich Klausuren leite, verlange ich nur etwas für Kost und Logis und für andere direkte Auslagen, und ich lade ein, Geschenke zu machen.2 Es dauerte eine Weile, bis ich einen Bewusstseinszustand erreichte, in dem dieses Modell wirklich “funktioniert”. Wenn ich jenen gegenüber nachtragend bin, die mir nichts gegeben haben, wenn ich es darauf anlege, die Menschen unter Druck zu setzen oder dahingehend zu manipulieren, dass sie mir mehr geben, als es ihre echte Dankbarkeit gebietet, indem ich hochtrabende Prinzipien verkünde, oder indem ich subtil Schuldgefühle wecke, indem ich meine Entbehrungen andeute, meine Opfer, oder versuche, einen Anspruch geltend zu machen, weil ich arm bin, dann lebe ich keinesfalls im Geist des Schenkens. Dann lebe ich statt dessen ein Knappheitsdenken oder eine subtile Form von Bettelei, und, wie um den Zustand zu spiegeln, trocknet fast augenblicklich der Fluss der Geschenke aus. Nicht nur die Menschen schenken mir nichts mehr, sondern auch die innere Quelle, aus der meine Geschenke kommen, trocknet aus.

Ich beobachte, dass der Zufluss von Geschenken gleich groß oder größer als der Abfluss ist, solange meine Intention zu schenken wahrhaftig ist. Manchmal ist die Form, in der die Gegengeschenke kommen, rätselhaft beziehungsweise nur indirekt oder überhaupt nicht nachvollziehbar. Dann kann ich ein Geschenk nicht auf etwas zurückführen, das ich jemandem gegeben habe. Aber irgendwie hat es dann, wenn es kommt, etwas vom Geist des ursprünglichen Geschenks. Manchmal führt nur eine kaum zu witternde Fährte von Gleichzeitigkeiten und Symbolen von einem Geschenk, das ich bekomme, zu einem anderen Geschenk, das ich einmal gemacht habe. Die Vernunft sagt, dass dieses Gegengeschenk mit nichts in Verbindung steht, das ich je einem Mensch geschenkt habe – “ich hätte das sowieso bekommen” – aber mein Herz weiß es besser.

Weil das Gegengeschenk später kommt, leben wir eine Zeit lang im Vertrauen. Ohne die Gewissheit einer Entgegnung finden wir heraus, ob wir es wirklich so meinen. Das Ego tobt und schlägt um sich und versucht einen gesicherten Nutzen zu erzielen. Wenn es schon kein Geld ist, vielleicht kann ich auf meine Großzügigkeit aufmerksam machen, um Lob einzuheimsen. Vielleicht kann ich mir heimlich gratulieren und mich gegenüber anderen überlegen fühlen, die weniger im Geist des Schenkens leben als ich. Meiner Erfahrung nach ist jeder neue Schritt in das Leben im Geschenk furchterregend. Das Loslassen muss echt sein, sonst wird keine Erwiderung kommen.

21.2 Geschäftsleben im Geist des Schenkens

Wenden wir jetzt dieses Modell auf andere Arten von Geschäften an. Es gibt schon heute einige Unternehmen, die auf kreative Weise die Schenkökonomie umsetzen. Ich halte mein eigenes Modell nicht für den besten oder einzigen Weg, im Geist des Schenkens zu leben. Wir leisten Pionierarbeit für eine neue Wirtschaft, und es wird einiges an Versuchen und Irrtümern brauchen, bis wir die Sache richtig hinbekommen. Ich werde ein paar Beispiele von Menschen bringen, die Geschäfte nach einem oder beiden Schlüsselprinzipien des Schenkens machen: (1) Die Empfängerin, nicht die Schenkende, bestimmt den “Preis” (das Gegengeschenk); (2) das Gegengeschenk wird erst bestimmt, nachdem das ursprüngliche Geschenk empfangen wurde, nicht davor.

In Berkeley, Kalifornien, wurden in der Karma Clinic zwei Jahre lang Menschen auf Geschenkbasis ganzheitsmedizinisch behandelt. Nachdem die Patienten eine Beratung oder Behandlung erhalten hatten, gab man ihnen eine “Rechnung”, auf der stand:

“Ihre Beratung ist ein großzügiges Geschenk von jemandem, der vor Ihnen hier war. Wenn Sie in diesem Geiste weiterschenken wollen, können Sie das tun, wie immer Sie wollen. Geldgeschenke oder andere Geschenke können in der Geschenkkiste im Büro der Karma Clinic hinterlegt oder via Post geschickt werden an …”

In Ashland, Oregon, ist eine weitere geschenkbasierte Klinik namens Gifting Tree entstanden. Es gibt zweifellos noch viel mehr solche Kliniken auf der ganzen Welt, und sie scheinen recht tragfähig zu sein: Das Victoria Attunement Center wurde von 1982 bis 1988 rein auf Spendenbasis geführt und hat sich mit mehr als 300 Patientenbesuchen pro Monat gänzlich selbst getragen.

Das Schenkmodell wurde auch auf Restaurants angewendet: Das One World Restaurant in Salt Lake City, in Betrieb seit 2003, das SAME (So All May Eat) Café in Denver, die Karma Kitchen in Berkeley, und viele mehr laufen auf reiner Spendenbasis – und in vielen wird darüber hinaus auch biologische Kost serviert.

Die Idee kam vor kurzem im Mainstream an, als die nationale Restaurantkette Panera Bread ein pay-what-you-want (zahle-was-du-willst) Lokal in St. Louis, Missouri eröffnete. Auf der Karte steht genau das gleiche wie in den anderen Lokalen, aber die Preise sind nur Richtwerte. Die Kunden werden gebeten zu bezahlen, was sie für richtig halten: auf dem Schild am Schalter steht: “Nehmen Sie, was Sie brauchen – hinterlassen Sie ihren gerechten Anteil.” Wenn dieses Experiment funktioniert, plant das Unternehmen das Modell auf andere Standorte im ganzen Land auszuweiten.3 Ich frage mich, ob ihnen klar ist, dass sie nicht nur ein neues Modell von Bürgertugend, sondern auch ein Geschäftsmodell für die Zukunft erproben.

Auch im Internet blüht natürlich die Schenkökonomie. Für alle gängigen Anwendungen von Bürosoftware gibt es Varianten, die ohne Lizenzgebühr zu haben sind. Das Software-Paket OpenOffice, eine kollaborative Leistung von Hunderten freiwilliger Programmierer, ist zum Beispiel ohne Entgelt verfügbar. Ich zögere, hier das Wort “frei” oder “gratis” zu verwenden, weil diese Worte fast suggerieren, dass eine Gegengeschenk zurückgewiesen würde. Die OpenOffice Organisation nimmt Spenden an und animiert alle, die die Software heruntergeladen haben, dazu, in verschiedener Weise einen Beitrag zu leisten.

Auch viele Bands bieten ihre Musik online “gratis” an. Radiohead war die bemerkenswerteste Vorreiterband für ein Geschäftsmodell auf Geschenkbasis im Vertrieb von Musik auf Tonträgern. Die Band bot 2007 ihr Album In Rainbows auf einer zahle-was-du-willst- Basis an. Fast zwei Drittel der Downloader entschieden sich dafür, nichts zu bezahlen. Hunderttausende zahlten ein paar Dollar dafür, und Millionen von Kopien wurden auf iTunes, als CDs und über andere Kanäle gekauft. Die Kritiker ließen diesen Erfolg nicht gelten und bezeichneten ihn als Ausnahme, die dem Status von Radiohead als Ikone geschuldet war, aber das Grundmodell findet weiterhin Verbreitung, besonders in der Musikindustrie, weil für die meisten Bands die traditionellen Vertriebskanäle immer weniger gangbar werden.

Erstaunlicherweise hat sogar eine Rechtsanwaltskanzlei das Zahle-was-du-willst-Element in ihr Geschäftsmodell aufgenommen. Die Valorem Law Group, eine Kanzlei für Strafverteidiger aus Chicago, hat auf ihren Rechnungen eine Funktion zur “Wertanpassung”. Am Ende der Rechnung, über dem leeren Kästchen “Gesamtsumme”, steht ein Kästchen mit der Bezeichnung “Wertanpassung”. Der Klient schreibt eine positive oder negative Zahl hinein und passt damit die Endsumme entsprechend an. Ich bin voller Bewunderung für diese Firma, weil diese Funktion von einem gesetzlichen Standpunkt aus ziemlich verrückt ist. Jemand könnte die Rechnung mit einem negativen Betrag in der Gesamthöhe “anpassen” und nichts bezahlen, und die Firma hätte wahrscheinlich keine legale Möglichkeit, dagegen Einspruch zu erheben.

Also verallgemeinern wir diese Beispiele jetzt zu einem weithin anwendbaren Geschäftsmodell. Die Eckpfeiler sind recht einfach. Die erste Richtlinie ist, Geld nur zu verlangen, um die eigenen unmittelbaren Kosten zu decken. Das umfasst die Grenzkosten (Kosten für die Produktion) und anteilsmäßigen Fixkosten, aber keine versenkten Kosten. Wenn Sie zum Beispiel für jemanden einen Abfluss installieren, dann würden Sie etwas für die Materialien (ohne Aufschlag), für die Fahrtkosten, und vielleicht einen halben Tag entsprechend Ihren laufenden Zahlungen auf Investitionsgüter (z.B. Ihren Kredit für den Lastwagen, ihren Betriebskredit, etc.) verlangen. Sie würden dem Empfänger klar machen, dass Ihre Arbeitszeit, Ihre Arbeitskraft und Ihre Expertise Geschenke sind. Auf der Rechnung stünden die Gesamtkosten, dann eine leere Zeile mit der Bezeichnung “Geschenk”, und darunter schließlich die Zeile “Gesamtsumme”.

Eine Variation über dieses Thema wäre es, Valorem zu folgen und einen normalen marktüblichen Preis anzugeben und darunter eine Zeile für die “Wertanpassung” oder “Dankbarkeitsanpassung”. Die meisten Menschen werden wahrscheinlich einfach den Marktpreis bezahlen, aber Sie können erklären, dass sie ihn anpassen können, wenn sie besonders zufrieden oder unzufrieden mit der geleisteten Arbeit sind.

Eine andere Variante ist es, überhaupt nichts zu verlangen, aber die verschiedenen Kostenfaktoren aufzulisten, wie “Materialkosten”, “anteilsmäßige Kosten an Geschäftsausgaben”, “Arbeitsstunden”, “Marktpreis für diese Leistung” und so weiter. So kann sich die Empfängerin sogar dafür entscheiden, überhaupt nichts zu bezahlen, nicht einmal für Materialien, aber sie hat zumindest diese Information. Diese Information ist, wie die “Rechnung” in der Karma Clinic, die “Geschichte von diesem Geschenk”, über die ich früher geschrieben habe. Traditionellerweise waren Geschenke oft von der Geschichte ihrer Entstehung begleitet, die dem Empfänger half, ihren Wert schätzen zu lernen.

Dieses auf Geschenken basierende Unternehmensmodell ist eigentlich von der normalen Geschäftspraxis gar nicht so weit entfernt, wie Sie vielleicht denken mögen. Heute ist es eine verbreitete Verhandlungstaktik zu sagen: “Sehen Sie, das sind meine Kosten; darunter kann ich nicht gehen.”4 Es ist kein so großer Perspektivenwechsel zu sagen: “Das sind meine Kosten. Je nachdem, wie viel Sie Ihrer Einschätzung nach an Wert von mir bekommen haben, können Sie mir auch mehr bezahlen.” Oft wird der Kunde den Marktpreis der Güter und Dienstleistungen, die Sie anbieten, recht gut kennen, und wenn es überhaupt so etwas wie echte Menschlichkeit in Geschäftsbeziehungen gibt, wird er Sie nahe diesem Wert bezahlen. Wenn er oder sie eine Prämie über die Grundkosten hinaus bezahlt, dann können Sie das als Zeichen von Dankbarkeit interpretieren. Wenn jemand dankbar für das ist, was Sie gegeben haben, werden Sie den Wunsch verspüren, noch mehr zu geben. Wenn jemand undankbar ist, dann wissen Sie, dass das Geschenk nicht voll angenommen worden ist, und Sie werden diesem Menschen wahrscheinlich nicht noch einmal etwas geben.

Übertragen auf eine Geschäftsbeziehung bedeutet das, dass Sie mit jemandem keine Geschäfte mehr machen werden, wenn dieser Ihnen wenig oder nichts über die Grundkosten hinaus bezahlt. Und Sie werden bevorzugt mit jemandem Geschäfte machen, der das Geld als Symbol verwendet, um Ihnen damit einen hohen Grad an Dankbarkeit auszudrücken. So sollte es sein. Manche Menschen brauchen unsere Geschenke mehr als andere. Wenn Sie Brot haben, dann möchten Sie es einem hungernden Menschen geben. Sichtbare Dankbarkeit hilft uns bei der Orientierung, wie wir unser Potential am besten zum Ausdruck bringen können. Also wird ein Unternehmen so wie heute auch dazu tendieren, Geschäfte mit jenen zu machen, die das meiste Geld bezahlen (obwohl vielleicht auch nicht-monetäre Ausdrucksformen von Dankbarkeit ins Spiel kommen werden). Das ist anders als die Tendenz, Geschäfte mit jenen zu machen, die den besten Preis anbieten. Dieser Unterschied ist entscheidend. Wenn wir im Geist des Schenkens bleiben, wird der Preis nicht vor seiner Zeit angeboten. Das Geschenk wird zuerst gemacht, und erst nachdem es empfangen wurde, wird ein Gegengeschenk gemacht.

Ich komme nicht umhin, die Parallele zwischen diesem Ansatz und verschiedenen spieltheoretischen Studien über Altruismus und wiederholte Gefangenendilemma-Problemstellungen zu sehen. Schlagen Sie in der Wikipedia “tit for tat” nach, um mehr über den Hintergrund zu erfahren. Im Wesentlichen ist die beste Strategie in vielen Situationen, in denen es wiederholte Interaktionen zwischen separaten Einheiten und verschiedene Bewertungen für Kooperation und Betrug gibt, erst zu kooperieren und sich nur zu rächen, wenn jemand beim letzten Mal nicht kooperiert hat. Eine analoger Schluss bringt mich dazu zu denken, dass das Geschäftsmodell, das ich beschrieben habe, über die Zeit eigentlich finanziell viel erfolgreicher sein kann als das Standardmodell.5

Weil uns heute die Mentalität des Schenkens so fremd ist, erfordert das Geschäftemachen im Geist des Schenkens ein bisschen Training. Ich habe herausgefunden, dass die Menschen es nicht wertschätzen, wenn ich eine Veranstaltung als “mit freier Spende” ankündige, weil sie dann denken: “Das kann nicht sehr wertvoll oder wichtig sein, wenn er nichts dafür verlangt.” Sie werden zu spät kommen oder überhaupt gar nicht, oder sie werden mit geringen Erwartungen kommen. Einen Eintrittspreis zu bezahlen ist eine Art von Ritual, das eine Botschaft an das Unbewusste sendet: “Das ist etwas Wertvolles” oder: “Ich tue das, weil ich es ernst meine”. Ich und viele anderen experimentieren immer noch damit, wie sich bessere Möglichkeiten finden, den Effekt, den die Zahlung bewirkt, heraufzubeschwören und trotzdem dem Geist des Geschenks treu zu bleiben. Wir stehen am Beginn einer neuen Ära, also wird es einiges an Erfahrung und Experimenten brauchen.

Offensichtlich sind jetzt, wo ich dieses Buch schreibe, die meisten Konzerne und Geschäftsinhaber nicht bereit, auf ein geschenkbasiertes Geschäftsmodell umzusteigen. Das ist okay – Sie können ihnen aber einen kleinen Schubser geben! Setzten Sie es einfach einseitig um, indem Sie ihre Produkte “stehlen”, zum Beispiel, indem Sie digitale Inhalte wie Songs, Filme, Software und so weiter illegal downloaden oder kopieren. Und dann, wenn Sie sich den Erzeugern gegenüber dankbar fühlen, schicken Sie ihnen ein bisschen Geld. Ich wäre recht froh, wenn Sie dasselbe auch mit diesem Buch machen würden. Es wird allerdings schwer sein, das illegal zu tun, weil ich nicht die üblichen Urheberrechte einfordere (Ich wette, Sie haben die Seite mit dem Copyright nicht aufmerksam gelesen; es ist nämlich nicht der übliche Wortlaut), und der Text ist ohne Entgelt online verfügbar. Wenn es Ihnen trotzdem gelingt, dieses Buch zu “stehlen”, freue ich mich darauf, von Ihnen einen Betrag zu erhalten, der Ihre Dankbarkeit ausdrückt – im Gegensatz zu dem Betrag, von dem ich oder der Verlag meinen, er würde den Wert für Sie widerspiegeln. Die persönliche Erfahrung, dieses Buch zu lesen, ist für jeden Menschen anders: Für manche mag es eine Zeitverschwendung sein, für andere mag es lebensverändernd wirken. Ist es nicht absurd, ein identisches Gegengeschenk von jedem entgegenzunehmen?

21.3 Heilige Berufe

Das Schenken als Geschäftsmodell bietet sich ganz natürlich für Berufe an, in denen der aufgebrachte Wert etwas nicht Greifbares ist. Was Musiker, Künstler, Prostituierte, Heiler, Berater und Lehrer bereitstellen, sind Geschenke, die entwertet werden, wenn wir ihnen einen Preis beimessen. Wenn das, was wir anbieten, heilig für uns ist, dann ist der einzige ehrenhafte Weg, es als Geschenk darzureichen.6 Kein Preis kann hoch genug sein, um die Heiligkeit des Unzählbaren widerzuspiegeln. Wenn ich ein bestimmtes Honorar für meinen Vortrag verlange, mache ich dadurch mein Geschenk kleiner. Wenn auch Sie einen der oben genannten Berufe haben, könnten Sie in Erwägung ziehen, mit dem Geschäftsmodell des Schenkens zu experimentieren. Aber denken Sie daran, wenn Sie versuchen, das Modell als schlaues Mittel anzuwenden, um “bezahlt zu werden”, wird es nicht funktionieren. Die Menschen spüren ein unaufrichtiges Geschenk, ein Geschenk, das kein Geschenk ist, sondern von der Absicht begleitet wird, dabei Gewinn zu machen.

In all den genannten Berufen kleidet sich das Nicht-Greifbare in das Gewand des Greifbaren, und doch möchte dabei das erstere, das Nicht-Messbare natürlicherweise in der Welt des Geschenks verweilen. Das gilt eigentlich sogar für jeden Beruf. Es ist immer irgendetwas da, das über das Zählbare, über die Ware, und daher über einen Preis hinausgeht. Jeder Beruf ist daher potentiell heilig. Betrachten Sie zum Beispiel einen Bauern: Was macht Nahrung (etwas Greifbares) zu einem Werkzeug des Heiligen?

Die Nahrung wird von jemandem angebaut, dem ihre nährenden und ästhetischen Qualitäten ein großes Anliegen sind. Sie wird auf eine Art und Weise angebaut, die das Ökosystem, den Boden, das Wasser und das Leben allgemein bereichert. Ihre Produktion und Verarbeitung leisten einen Beitrag zu einer gesunden Gesellschaft.

Mit anderen Worten ist heilige Nahrung eingebettet in ein Netz aus natürlichen und sozialen Beziehungen. Sie wird mit einer Liebe für die Menschen und die Erde angebaut, die keine abstrakte Liebe ist, sondern eine Liebe für dieses Land und diese Menschen. Wir können nicht etwas Namenloses lieben; vielleicht fröstelt es mich deshalb immer ein bisschen bei anonymer Wohltätigkeit, die keine Verbindungen erzeugt. Jemand hat heilige Nahrung für mich angebaut!

Wenn wir unsere Arbeit als heilig betrachten, möchten wir sie gut machen, um ihrer selbst Willen, und nicht “gut genug” für etwas Fremdes wie den Markt, die Bauordnung oder eine Güteklasse. Ein Baumeister, der heilige Arbeit verrichtet, wird Materialien und Methoden anwenden, die in den Wänden versteckt sein können, Jahrhunderte lang, ohne dass es jemand bemerkt. Er zieht keinen rationalen Nutzen daraus, nur die Genugtuung, es richtig zu machen. Genauso der Unternehmenseigner, der ein Gehalt bezahlt, das über dem marktüblichen existenzsichernden Niveau liegt, oder der Hersteller, der die Umweltstandards übertrifft. Sie können sich auf rationaler Ebene keinen Nutzen erwarten, aber sie profitieren trotzdem in gewisser Weise, manchmal auf ganz unerwarteten Wegen. Unerwartete Erwiderungen stimmen perfekt mit der Natur des Geschenks überein, wie es Lewis Hyde ausdrückt: ein Geschenk “verschwindet ums Eck”, “ins Geheimnis”, und wir wissen nicht, wie es zu uns zurück kommen wird.

Eine andere Möglichkeit, die unerwarteten Ergebnisse zu sehen, die aus dem Geheimnis heraus entstehen, ist, dass Magie passiert, wenn wir im Geist des Geschenks leben. Die Mentalität des Schenkens ist eine Form von Glaube, eine Art der Hingabe – und das ist eine Vorbedingung dafür, dass Wunder geschehen können. Das Geschenk macht uns fähig, das Unmögliche zu vollbringen.

In Oregon traf ich einen Mann, der eine Hausverwaltungsfirma betreibt, die sich auf Pflegeanlagen für alte Personen mit niedrigem Einkommen spezialisiert hat. “Das”, so sagt er, “ist ein unmögliches Geschäft.” Aufgrund der vielfältigen, miteinander kollidierenden Belastungsfaktoren durch die medizinischen Einrichtungen, Versicherungsgesellschaften, Regierungsvorgaben, die Armut der Einwohner und die allgemeinen finanziellen Turbulenzen war seine Firma in einer Krise. In der Woche, in der ich ihn besuchte, riefen zwei seiner größten Konkurrenten an und flehten ihn an, ihre verlustbringenden Anlagen zu übernehmen. Aber irgendwie hat dieser Mann ein gewinnbringendes, wachsendes Unternehmen gegründet, einen wirkungsmächtigen Arbeitsplatz, und menschliche Lebensumgebungen geschaffen, die ein Modell für die Branche sind. Wie macht er es? “Jeden Tag,” sagt er, “komme ich ins Büro, wo mich ein Berg unmöglicher Probleme erwartet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man sie lösen könnte. Also mache ich das Einzige, was ich tun kann: Ich diene meiner Pflicht. Und dann fallen mir wie durch Zauberhand Lösungen in den Schoß.”

Der, der sich dienend seiner Pflicht verschreibt, ist ein Künstler. Arbeit als heilig zu betrachten, heißt, ihr zu dienen und so ihr Instrument zu werden. Noch ausdrücklicher und irgendwie paradox: Wir werden zum Instrument dessen, was wir schaffen. Sei es eine materielle, menschliche oder soziale Schöpfung, wir stellen uns in den bescheidenen Dienst an etwas, das schon existierte, sich aber noch nicht manifestiert hat. Daher hat der Künstler Ehrfurcht vor seiner eigenen Schöpfung. Wenn ich laut aus Die Renaissance der Menschheit vorlese, bekomme ich dieses Gefühl: “Habe wirklich ich das geschrieben?” Dieses Buch ist ein eigenständiges Wesen, das durch mich geboren wurde, das ich aber nicht anders geschaffen habe, als wenn Eltern ein Kind zeugen oder ein Bauer eine Spinatpflanze setzt. Sie übermitteln den Impuls des Lebens, stellen den Raum zur Verfügung, in dem es wachsen kann, aber sie verstehen nicht die Details der Zelldifferenzierung, und sie müssen diese auch nicht verstehen. Auch ich nährte mein wachsendes Buch mit allen Ressourcen, die mir zur Verfügung standen, und ich habe es unter schrecklichen Mühen aus seinem Mutterleib in meinem Kopf in seine materielle Form geboren. Ich bin intim vertraut mit jeder Kleinigkeit an ihm, aber ich habe beständig das Gefühl, dass es schon davor existierte, dass es jenseits meiner Erfindungsgabe liegt. Können sich Eltern mit Recht die Erfolge ihrer Kinder als eigenes Verdienst anrechnen? Nein. Das ist eine Form von Diebstahl. So will auch ich mir die Schönheit meiner Werke nicht als eigenes Verdienst anrechnen.

Ich habe das herausgegriffen, um zu zeigen, dass jene Logik, welche die Kirchenväter, Thomas Paine und Henry George auf das Land anwendeten, auch für die Früchte der menschlichen Arbeit gilt. Sie existieren über uns hinaus – wir sind die Hüter in ihrem Dienst, so wie wir rechtmäßig die Hüter und nicht die Besitzer von Land sind. Sie sind uns gegeben, und so geben wir sie weiter. Darum fühlen wir uns zu Unternehmungen im Geist des Schenkens hingezogen. Sie fühlen sich gut und richtig an, weil sie uns mit der Wahrheit in Einklang bringen. Sie eröffnen für uns den Fluss der Fülle über die Grenzen unserer eigenen Gestaltungsmöglichkeit hinaus. Das ist der Ursprung jeder großen Idee oder Erfindung: “Sie flog mir zu.” Wie können wir uns dann anmaßen, sie zu besitzen? Wir können sie nur weitergeben und so den Kanal offen halten, durch den wir weiterhin heilige Geschenke in verschiedensten Formen von anderen Menschen und von allem, was ist, empfangen werden.

Als Anreiz, den Übergang in ein Geschäftsmodell des Schenkens zu wagen, dient auch die Beobachtung, dass das alte Modell für viele der heiligen Berufe nicht mehr funktioniert. Hier in der kleinen Stadt Harrisburg in Pennsylvanien, nicht gerade dem fortschrittlichsten Ort auf der Welt, annoncieren trotzdem buchstäblich hunderte ganzheitlicher, komplementärer und alternativer Heiler im lokalen Holistic Health Networker7. Hunderte. Und als sie sich für ihre Kräuterkundekurse oder für ihren Yoga-Therapie- oder Naturopathie-, oder Hypnotherapiekurse, für ihre Engelausbildung, ihre Kurse für ganzheitliche Ernährung, Massagetherapie oder was sonst noch einschrieben, hatte wahrscheinlich mindestens die Hälfte von ihnen vor, in Zukunft eine Karriere in einem Büro oder ganzheitlichen Gesundheitszentrum zu machen, in dem “Klienten” zu “Sitzungen” zu je $85 oder $120 kommen. Es ist ausgeschlossen, dass mehr als eine Handvoll diesen Traum verwirklichen wird. Aber die Ausbildungszentren und Trainingskurse produzieren am laufenden Band neue Praktiker. Früher oder später werden die meisten von ihnen das Modell mit Klienten und Sitzungen aufgeben müssen, und ihre Fähigkeiten als Geschenk anbieten.8

Was bei diesen Berufen passiert, ist auch eine allgemeinere Bewegung. Wir könnten sie den Überkapazitäten zuschreiben, dem Schuldenüberhang, dem fallenden “Grenzertrag des Kapitals” oder einem anderen Wirtschaftsfaktor, aber Tatsache ist, dass sich das alte Gewinnmodell in der Krise befindet. Wie die ganzheitlichen Praktiker werden bald auch wir kollektiv keine andere Wahl haben, als geschlossen ein anderes Modell anzunehmen.

In der alten Wirtschaft gingen die Menschen ihren Jobs nach und verfolgten Karrieren, um sich ihr Leben zu verdienen. Wenn es ums Überleben geht, ist nichts zu heilig, um es zu verkaufen, um dafür Geld zu verlangen. Wenn Sie zum Beispiel in einer Bleimine in China arbeiten, um zu überleben, dann wird es sich wahrscheinlich nicht falsch anfühlen, den bestmöglichen Preis für Ihre Arbeitskraft herauszuhandeln und zu verlangen. Man kann es auch so sehen, dass das eigene Überleben und das der Angehörigen an sich schon ein heiliges Bestreben ist.

Ich möchte in dieser Diskussion einen behutsamen aber realistischen Ton anschlagen. Bitte denken Sie nicht, dass ich hier einen Maßstab für Altruismus oder Selbstaufopferung setze, der einem Heiligen Ehre machen würde. Sie verdienen sich keine himmlische Belohnung, wenn Sie eine Gehaltskürzung akzeptieren. Wenn im Moment das Überleben oder die Sicherheit Ihre Hauptsorgen sind, dann wird für Sie “Arbeit” wahrscheinlich kein Weg zum Ausdruck Ihres Potentials sein. Ihr Job wird sich genau so anfühlen: ein “Job” – etwas, das Sie hauptsächlich für das Geld tun, und das Sie nicht mehr machen oder radikal ändern würden, wenn Sie nicht unter finanziellem Druck stünden. Und selbst wenn Sie sich auf eine Weise abgezockt fühlen, wenn Sie ein Leben führen müssen, für das Sie jemand anderer bezahlt, nicht Ihr eigenes, sondern das Leben eines Sklaven, der dazu verdammt ist, zu arbeiten oder zu sterben, heißt das nicht, dass Sie ihre Ängste überwinden und diesen Job kündigen “sollten” und darauf vertrauen, dass dann alles in Ordnung sein würde. Im Geist des Schenkens zu leben ist nicht wieder eine Sache, die Sie tun müssen, um ein guter Mensch zu sein. Angst ist nicht der neue Feind in unserem andauernden Krieg gegen das Selbst, der Nachfolger der alten Kobolde wie Sünde und Ego. Die heilige Ökonomie ist Teil einer allgemeineren Revolution des menschlichen Seins: Im Inneren ist sie das Ende vom Krieg gegen das Selbst; im Äußeren ist sie das Ende vom Krieg gegen die Natur. Sie ist die wirtschaftliche Dimension eines neuen Zeitalters, des Zeitalters der Wiedervereinigung.

Wenn Sie sich also in der Lage wiederfinden, sich in einem Job abzurackern, den Sie für das Geld und “gut genug” statt “so schön es mir möglich ist” machen, bitte ich Sie dringend, aus diesem Job erst auszubrechen, wenn – und nur wenn – Sie dazu bereit sind. Vielleicht können Sie ihren Job als Geschenk an sich selbst sehen, das Ihnen ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, solange Sie es brauchen, bis dieses Gefühl zur zweiten Natur wird. Die Angst ist nicht der Feind, obwohl das so viele spirituelle Lehrer behaupten: “Das Gegenteil von Liebe,” sagt der eine. “Eingefrorene Freude,” sagt ein anderer. Angst ist in Wirklichkeit eine Wächterin, die uns an einem sicheren Platz hält, an dem wir wachsen können. Man könnte auch sagen, dass Angst ein Geschenk ist. Und wenn wir dann wachsen, beginnt die Angst, die einmal beschützt hat, uns einzuschränken, und wir verlangen danach, geboren zu werden. Dass das passieren wird, ist unvermeidlich. Vertrauen Sie jetzt auf sich selbst, dann werden Sie auch später auf sich vertrauen, wenn Ihre Sehnsucht Sie dazu treibt, die alten Ängste zu überwinden und in eine weitere, hellere Sphäre einzutreten. Wenn die Stunde der Geburt kommt, werden Sie nicht mehr in der Lage sein, sich dagegen zu sperren.

Wenn wir aufhören darum zu ringen, gut zu sein, bedeutet das auch, dass das Geben nicht von einem Gefühl des Opfers oder der Selbstverleugnung begleitet ist. Wir geben, weil wir wollen, nicht weil wir sollten. Dankbarkeit – die Erkenntnis, dass man etwas bekommen hat und der Wunsch, nun selbst etwas zu geben – ist unser angeborener Grundszustand. Wie könnte es anders sein, wenn das Leben, der Atem und die Welt Geschenke sind? Wenn selbst die Früchte unserer Arbeit jenseits unserer eigenen Erfindungsgabe liegen? Im Geist des Schenkens zu leben bedeutet, dass wir uns mit unserer wahren Natur wiedervereinigen.

Wenn Sie zum Denken im Geist des Schenkens übergehen, lassen Sie sich von Ihren Gefühlen leiten. Lassen Sie Ihr Schenken aus der Dankbarkeit heraus entstehen, und nicht aus dem Wunsch, einer Tugendnorm zu entsprechen. Die ersten Schritte werden vielleicht klein sein: kleine Extras dazuzugeben, kleine Gefallen zu leisten, ohne eine Belohnung zu erwarten. Wenn Sie ein Unternehmen leiten, werden Sie vielleicht einen kleinen Teilbereich auf das Schenkmodell umstellen. Welche Schritte auch immer Sie unternehmen, seien Sie sich bewusst, dass Sie damit die Wirtschaft der Zukunft vorbereiten.

1 Lewis Hyde, The Gift: Imagination and the Erotic Life of Property. New York: Vintage Books, 2007. Seite 66

2 Warum verlange ich überhaupt Geld, um die Ausgaben zu decken? Weil ich die Veranstaltungen als gemeinsame Schöpfung sehe. Jeder von uns trägt etwas dazu bei, damit die Veranstaltung stattfinden kann. Das liegt nicht im Bereich der Dankbarkeit, sondern im Bereich der Mitgestaltung, es ist ein Sammeln von Ressourcen, damit eine Absicht in die Tat umgesetzt werden kann.

3 Ende 2012 gibt es laut der Website des Unternehmens außer der Filiale in St. Louis noch drei weitere in Dearborn, Portland und Chicago. (Anm. d. Ü.)

4 Natürlich sind die wahren Kosten gewöhnlich niedriger, als es irgendjemand zugeben würde, und es kommen andere Faktoren ins Spiel, wie zum Beispiel Fixkosten für ungenützte Ausrüstung und Angestellte, für den Fall dass keine Übereinkunft erzielt wird.

5 Diese Prinzipien gelten nur, wenn die Geschäftsbeziehungen innerhalb einer Gemeinschaft stattfinden. In Fällen, wo alle Interaktionen einmalige Transaktionen mit Fremden sind, ist das Schenkmodell weniger brauchbar. In alten Schenkkulturen war das auch meist so. Wenn es Tausch gab, dann fand dieser zwischen Fremden statt. Aber ich habe herausgefunden, dass die meisten Menschen den Geist des Geschenks sogar achten, wenn es eine einmalige Transaktion ist. Ist es möglich, dass wir fühlen, dass wir im Grunde Teil einer allumfassenden Gemeinschaft sind, und dass unsere Geschenke, selbst unsere anonymen, vor deren Zeugenschaft stattfinden?

6 Bezeichnenderweise haben manche dieser Berufsgruppen traditionell immer schon an der Grenze zwischen Bezahlung und Geschenk gearbeitet. Künstler und Musiker wurden von einem Mäzen unterstützt, der ihnen Geld gab, damit sie arbeiten konnten. Das erlaubte es Menschen wie Mozart, in einer Zeit vor den Urheberschutzrechten zu überleben. Edelprostituierte lebten lange auf Basis eines ähnlichen Modells, indem sie sich Geschenke von ihren Stammkunden machen ließen.

7 Ein vierteljährlich in Zentralpennsylvania erscheinendes Magazin zum Thema ganzheitliche Lebensweise. (Anm. d. Ü.)

8 Das ist ein Trend hin zur Universalisierung von Medizin. Das Heilen bewegt sich von der Geldökonomie zurück in den Bereich der gesellschaftlichen Commons.

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